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Europa braucht eine Kehrtwende
»Die Krise, die Europa erfasst hat, kam nicht überraschend. Sie ist das Ergebnis einer neoliberalen Politik, die auf den Wettbewerb der Staaten, Marktgläubigkeit und eine weitgehend unregulierte Finanzindustrie setzte. Die kontinuierliche Umverteilung von unten nach oben hat in eine Sackgasse geführt.«
So lautet eine der Kernaussagen des gemeinsamen Aufrufs »Europa geht anders«, der vor wenigen Tagen von SozialdemokraInnen, Linken, Grünen, WissenschafterInnen, GewerkschafterInnen, katholischen ArbeitnehmerInnen und MenschenrechtlerInnen in Deutschland, Österreich, Frankreich und Italien als gemeinsame Initiative gestartet wurde. Binnen weniger Tage fand er Tausende UnterstützerInnen.
Was uns eint, ist die Überzeugung, dass die neoliberale Krisenpolitik, die vorgibt, die Krise zu meistern, im dramatischen Ausmaß scheitert und in Europa Zustände produziert, die als längst überwunden galten. Das gesamte Desaster zeigt sich in wenigen Zahlen: 26 Millionen Menschen sind ohne bezahlte Arbeit - zehn Millionen mehr als vor der Krise. In den südlichen Ländern sind mittlerweile mehr als die Hälfte der jungen Menschen ohne Arbeitsplatz. In Athen prügeln sich Menschen bei Essensausgaben, um ihre Familien ernähren zu können. In Spanien kommt es trotz leer stehender Wohnungen zu massenhaften Zwangsräumungen. Wie treffend formuliert es Konstantin Wecker in einem Lied: »Die Menschenwürde, hieß es, wäre unantastbar, jetzt steht sie unter Finanzierungsvorbehalt.«
Wenn eine Politik zu solchen Verwerfungen führt, müsste doch allen klar sein, dass sie gescheitert ist und eine Neuausrichtung braucht. Aber im Gegenteil, sie soll noch weiter verschärft und verpflichtend auf alle Mitgliedsstaaten ausgeweitet werden. Mit einem »Pakt für Wettbewerbsfähigkeit und Konvergenz« will die EU nun den nächsten Schritt gehen und die Troika-Politik auf alle Mitgliedsstaaten ausdehnen. Diese Reise in die Vertiefung der falschen Krisenpolitik wollen wir stoppen. Wir wehren uns gegen diese Politik des Kürzens, Abbauens, des Lohndumpings, Zusperrens und Privatisieren. Wir gehen nicht zurück in das Europa der 1930er Jahre.
Europa braucht eine Kehrtwende. Ein klares Nein zum Wettbewerbspakt ist der notwendige Schritt für eine Abkehr von dieser Politik, die zunehmend Wut, Verzweiflung und Ratlosigkeit auslöst. Diese Politik ist nicht »alternativenlos«.
Wir stellen dem Kurs der herrschenden Politik die Vision einer gerechten Gesellschaft entgegen, in dem BürgerInnenrechte ausgebaut und verteidigt werden, wo Gesundheit, Wohlbefinden und die Wohlfahrt aller im Zentrum stehen und nicht die Gewinninteressen weniger. Dafür braucht es auch eine Politik, die um ihre Vorrangstellung streitet und ihre Unterordnung unter Wirtschaftsinteressen und Finanzmärkte bekämpft und die sich - das sage ich bewusst als Sozialdemokratin - kritisch mit eigener neoliberal durchzogener Regierungspolitik auseinandersetzt.
Das ist keine einfache Aufgabe. Aber eine Alternative, die sozial gerechter, gesellschaftlich fortschrittlicher und wirtschaftlich vernünftiger ist, kann Mehrheiten gewinnen und eine Atmosphäre für einen Politikwechsel erzeugen. Unser Aufruf, getragen von einer breiten, über Partei- und Ländergrenzen hinaus reichenden Allianz, kann dafür ein Anker werden. Europa geht anders - mit Sicherheit.
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