Woher dieser Hass?

Adelbert Reif im Gespräch mit dem Psychoanalytiker Arno Gruen

  • Lesedauer: 8 Min.

nd: Herr Professor Gruen, Ihr Leben lang haben Sie sich mit Ihren Publikationen gegen Fremdenhass, Rechtsradikalismus und Gewalt eingesetzt. Erschüttert es Sie, an Ihrem 90. Geburtstag Zeuge eines gewaltbereiten Rassismus in Europa zu werden?
Gruen: Das Phänomen ist nicht neu. Es rührt daher, dass ein gewisser Teil der Bevölkerung eine Kindheit hatte, die markiert war von autoritärer Unterdrückung des eigenen Selbst. Solche Menschen suchen dauernd Feinde, um geistig am Leben zu bleiben. Sie bekämpfen durch den Feind das Eigene, das, wie sie gelernt haben, aus der Sicht ihrer Eltern, der Schule, des Staates oder der Kirche unerwünscht ist. Das heißt, sie hassen sich selbst für das, was ihr Eigenes ist, und projizieren diesen Hass auf Andere. Am Anderen hassen sie das, was sie gelernt haben, an sich selbst zu hassen. Darum haben wir diese Feindseligkeit zu beklagen. Ob sie gegen Roma, Türken oder Juden gerichtet ist, macht keinen Unterschied.

Aber fürchten Sie angesichts des teils offenen, teils verdeckten Antisemitismus dieser Gewaltexzesse nicht eine Neuauflage nazistisch motivierter Verbrechen?
Nicht die Ideologie treibt die Menschen dazu zu hassen. Die kommt erst später und wird nur dazu gebraucht, um den Hass zu rechtfertigen. Der Hass war vordem da. Zu fühlen, dass man nicht die Person ist, die man sein könnte, weil es nicht akzeptiert wird, erzeugt Hass. Bereits im 18. Jahrhundert verwies der englische Dichter Edward Young darauf, dass wir als Originale geboren und als Kopien sterben würden. Diese Menschen, die voll Aggressionen sind und hassen, sind Kopien, die nie sie selbst sein durften. Ihre Eltern haben ihre Originalität nicht anerkannt und sie stattdessen gezwungen, sich in etwas hineinzufügen. Kinder müssen aber, um geistig und seelisch am Leben zu bleiben, auch zu Eltern, die ihre wahre Identität nicht anerkennen, eine Bindung herstellen. Das bedeutet, dass sie sich ihren Erwartungen unterwerfen müssen und ihr eigenes Selbst nicht leben dürfen.

Überbewerten Sie damit nicht die Wirkung von frühkindlichen Erfahrungen? Kann die Vielzahl an Einflüssen, der man im Laufe seines Lebens ausgesetzt ist, nicht ebenfalls prägend wirken?
Ich rede hier von etwas, das wir im Allgemeinen politisch nicht anerkennen möchten und das ist die Bedeutung einer liebevollen und auf die Bedürfnisse des Kindes eingehenden Zuwendung. Das fängt bereits in den Tagen nach der Geburt an. Im ersten Lebensjahr werden die Weichen gestellt. Und eine falsche Weichenstellung ist die Ursache, dass so viele Bewegungen in der Welt in Richtung Totalitarismus und autoritäre politische Strukturen zielen. Menschen, die als Kind unterdrückt wurden, verwandeln das, was geschehen ist, ins Gegenteil, um seelisch überleben zu können. Es vollzieht sich in ihrer Seele eine eigenartige Umkehr. Sie werden zum Komplizen ihrer Peiniger und fangen an, den, der sie unterdrückt und terrorisiert, zu idealisieren. Diese Erkenntnis veranlasste Proust, über den Mut zu staunen, in einer Welt zu leben, in der die Liebe durch eine Lüge provoziert werde, weil sie aus dem Bedürfnis bestehe, unsere Leiden von denen mildern zu lassen, die uns zum Leiden gebracht hätten. Das setzt sich fort bis ins Erwachsenenalter. Autoritär erzogene Menschen haben Angst vor lebendigen und offenen Entwicklungen. Sie suchen die Welt in ein Zwangsmodell zu pressen.

Haben sich die Vorstellungen von Erziehung seit der 68er-Bewegung nicht grundlegend gewandelt? Autoritäre Erziehungsmethoden, die Härte propagieren, werden heute doch kaum noch gutgeheißen.
Etwa ein Drittel der Bevölkerung hatte eine Kindheit, in der Mitgefühl verpönt wurde und Zärtlichkeit als Schwäche angesehen wurde. Ein weiteres Drittel besitzt ebenfalls solche frühen Lebenserfahrungen, hat zugleich aber auch empathische Zuwendung erfahren. Und dann gibt es ein Drittel, das als Kind in seiner Menschlichkeit unterstützt wurde und Zärtlichkeit als etwas Wichtiges erlebte. Diese Aufteilung findet man in allen Bevölkerungen unserer Zivilisation.

Wollen Sie damit sagen, dass die humanen Defizite sich nicht ausgleichen lassen und keine Hoffnung besteht, Fremdenhass und Gewalt jemals zu beseitigen?
Die Hoffnung ruht auf der Gruppe, die ihre Menschlichkeit behalten hat und eine eigenständige Identität entwickeln konnte. Sie muss all die Probleme zur Sprache bringen, damit die Gruppe in der Mitte dazu ermutigt wird, zu ihren empathischen Fähigkeiten zu stehen. Geschieht das nicht, wendet sich diese Gruppe denen zu, die keine eigene Identität zu entwickeln vermochten und ihre Identifikationen nach autoritären Vorbildern ausrichteten. Das war der Hintergrund für die großen Wahlerfolge von Franklin D. Roosevelt in den dreißiger und vierziger Jahren. Er zeigte sich in seinen öffentlichen Ansprachen sehr liebevoll und mitfühlend, ohne die Ängste zu verleugnen, denen Menschen ausgesetzt sind. Mit dieser Haltung sprach er nicht nur die Gruppe an, die selbst menschlich empfand, sondern er erreichte auch die Mittelgruppe, sodass er drei Mal zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt wurde, obwohl die Medien völlig gegen ihn waren. Es ist also durchaus möglich für Politiker, Menschlichkeit zu zeigen, und damit zur Weiterentwicklung der Demokratie beizutragen.

Können Sie heute solche Politiker nennen?
In Dänemark und Norwegen und sogar in Schweden haben Sie Regierungen, deren Mitglieder versuchen, das Menschliche zu fördern. Haben Politiker dagegen Angst, Menschlichkeit zu zeigen, gerät die Demokratie in Gefahr. Das kann man zur Zeit in Ungarn sehen. Da fördert das geistige Klima den Hass. Dadurch fühlen diese Menschen, die Feinde benötigen, sich gerechtfertigt, hassen zu dürfen. Sie werden durch Politiker gefördert, die ebenfalls den Hass brauchen, um an der Macht zu bleiben.

Und welche Rolle spielen in diesem Hassgeflecht ökonomische Faktoren wie die Finanzkrise oder die hohe Jugendarbeitslosigkeit?
Das Ökonomische spielt eine wichtige Rolle. Solange Menschen eine Arbeitsstelle haben, Geld verdienen, konsumieren und Waren kaufen können, empfinden sie sich als Teil der Gesellschaft. Sie haben dann das Gefühl, als Menschen vollständig zu sein. Sobald dies jedoch nicht mehr möglich ist, fühlen sie sich ausgeschlossen. Und die finanzielle Krise führte ja dazu, dass die Politiker, statt sich um das gesellschaftliche Problem der Arbeitslosigkeit zu sorgen, darauf bestanden, die Ausgaben zu reduzieren, was die Wirtschaft nicht stimuliert und alles noch verschlimmert - außer für die Reichen, die immer reicher werden. Menschen, die den Verlust ihres sozialen Status erleben, sind bereit, den Hass, der immer schon in ihnen vorhanden war, herauszulassen. Darum wird der Hass in Zeiten wirtschaftlicher Not immer stärker.

Sehen Sie darin eine Gefahr für die Demokratie in Europa?
Gefährdet ist nicht nur die Demokratie in Europa. Sie finden diese Erscheinungen ebenso in den Vereinigten Staaten. Denken Sie etwa an die Tea-Party-Bewegung oder die Republikanische Partei, deren Anhänger sich gar nicht für menschliche Bedürfnisse interessieren. Wenn wir nur auf Europa schauen, weil es da diese Nazi-Vergangenheit gibt, verfehlen wir den Ursprung des Problems. Der Ursprung liegt in der Kultur unserer Zivilisation, die Besitz, Profit und Herrschaft zu etwas Göttlichem erhoben hat und die Wahrnehmung von Leiden und Schmerz verpönt. Die Vertreter dieser Kultur sind jene Menschen, die keine wahre Identität haben, weil sie früh dazu gebracht wurden, sich anzupassen an das, was Eltern, Schule oder Kirche von ihnen verlangten.

Wie zukunftsfähig ist unsere Zivilisation vor dem Hintergrund solcher Entwicklungen noch?
Wichtig erscheint mir, dass es Gegenbeispiele gibt. Auch im Hinblick auf das Anwachsen von Gewalt gegen Fremde, Juden, Türken gibt es viele Kräfte, die sich zur Wehr setzen und die müssen unterstützt werden. Um eine demokratische Kultur aufrechtzuerhalten, muss man dauernd daran arbeiten und das Menschliche bestätigen. Der Kampf geht immer weiter. Man darf nur nicht das Empfinden haben, dass es ein vergeblicher Kampf ist. Schon Rousseau schrieb im 18. Jahrhundert vom Geist, der in die Natur eingedrungen sei wie das Messer in das Mark eines Baumes. Er meinte damit das abstrakte Denken, das die empathischen Wahrnehmungen verdrängt. Man könne die Schneide nicht mehr aus dem Stamm herausziehen. Denn der Baum würde verbluten. Aber ein Schwert im Herzen der »Weltesche« sei auch kein Merkmal für ihre Gesundheit. Der Kampf gegen Wettbewerb, Profit und Herrschaft und all das, was uns in die Unmenschlichkeit treibt, ist ein dauernder, der nie zu Ende sein wird. Wichtig ist es, im Kampf zu bleiben.

Ihrem neuen Buch haben Sie ein Zitat des portugiesischen Schriftstellers José Saramago vorangestellt über unsere Neigung zum Wegschauen …
Das Zitat stammt aus einem Interview, das Saramago zu seinem Roman »Die Stadt der Blinden« gab. Er sagte damals, er habe zeigen wollen, dass unsere aufgeklärte Moral bedroht sei. Wir könnten sehen, würden aber nicht sehen. Damit sprach er die Menschen an, die gegen diese Neigung zum Wegschauen kämpfen könnten. Das war seine Hoffnung. Es ist auch meine Hoffnung und es sollte unsere Hoffnung sein.


Arno Gruen,

1923 in Berlin als Sohn einer jüdischen Familie geboren, musste 1936 mit seinen Eltern in die Vereinigten Staaten emigrieren. Nach dem Studium der Psychologie leitete er ab 1954 die psychologische Abteilung der ersten therapeutischen Kinderklinik in Harlem. 1961 promovierte er als Psychoanalytiker bei Theodor Reik. Es folgten Professuren in Neurologie und Psychologie. 1979 übersiedelte er in die Schweiz und eröffnete in Zürich eine psychotherapeutische Praxis.

Zu seinen jüngsten Buchveröffentlichungen zählen: »Der Fremde in uns« (Stuttgart 2000), »Der Kampf um die Demokratie. Der Extremismus, die Gewalt und der Terror« (Stuttgart 2002) und »Verratene Liebe - Falsche Götter« (Stuttgart 2003). Sein soeben erschienenes Buch »Dem Leben entfremdet. Warum wir wieder lernen müssen zu empfinden« (Klett-Cotta, Stuttgart 2013) ist ein Plädoyer für Mitgefühl und Empathie.

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