»Erdogan hat nichts verstanden«
AK-Partei mobilisierte Anhänger wie im Wahlkampf / Gezi-Park weiter besetzt
Am Atatürk-Flughafen in Istanbul wurde Erdogan in der Nacht zum Freitag von einer begeisterten Menge seiner Anhänger empfangen. Der Regierungschef ließ sich mit einer langen Rede nicht lumpen. Dabei sagte er den Protestierenden erneut den Kampf an. Deren Demonstrationen seien »Vandalismus« und »im wahrsten Sinne des Wortes ungesetzlich«, meinte Erdogan. Sie müssten »sofort beendet werden«.
Zwar räumte der Premier die Möglichkeit ein, dass die Polizei auch übertriebene Gewalt angewendet habe, das werde untersucht. Im Übrigen jedoch war in seiner Rede keine Spur von einem Verständigungsangebot. Hinter den Protesten machte er diesmal Banken und die »Zinslobby« aus.
Diese Wendung kam nicht unerwartet. Schon am Tag zuvor hatte Erdogan von Tunesien aus ähnliche Ankündigungen gemacht. Darauf waren die Istanbuler Börse erneut eingebrochen und der Kurs der türkischen Lira gefallen. So etwas führt auch zu höheren Zinsen, was Erdogan wieder Gelegenheit gäbe, auf die Zinslobby anzuspielen. Wobei im Hintergrund das religiöse Zinsverbot des Islam mitschwingt. Der türkische Politikexperte Cengiz Candar resümierte: »Erdogan hat nichts verstanden.«
Aber vielleicht will er den Widerstand gegen seine Politik gar nicht verstehen, weil er nicht nur glaubt, im Recht, sondern letztlich auch stärker zu sein. Sein Auftritt am Flughafen wirkte wie ein vorgezogener Wahlkampfauftritt. Seine AK-Partei tat aber so, als handele es sich um einen spontanen Empfang. Ein Mitglied seiner Regierung hatte sogar dazu aufgerufen, Erdogan nicht am Flughafen abzuholen.
Doch die Veranstaltung war nur zu gut vorbereitet. Da waren Erdogans Wahlkampfbus, seine lange Rede, die Verteilung von Fahnen und Emblemen. Auch die städtische Metro fuhr länger als gewöhnlich zum Flughafen und wieder zurück. Ganz offensichtlich hatte die Partei ihre Mitglieder mobilisiert.
Indessen halten Demonstranten den Gezi-Park in Istanbul noch immer besetzt. Er soll nach Erdogans Plänen einem Einkaufszentrum weichen, woran sich die Proteste entzündet hatten. Am Abend hatten sich die Besetzer die Zeit mit Musik und Tanz vertrieben, um schließlich um Mitternacht Erdogans Rede an einem Bildschirm zu verfolgen. Danach blieb es bis zum Morgen ruhig. Dann gingen die »Vandalen« daran, den Park und den anschließenden Taksim-Platz von Müll zu säubern. Sie bekräftigten: »Wir bleiben hier.«
Erdogan hat für das Wochenende das oberste Gremium seiner Partei zusammengerufen. Offenbar will er die Halbherzigen und Schwankenden in seiner Partei, die eine weichere Linie gegen die Demonstranten vorziehen, wie sein Stellvertreter Bülent Arinc, auf einen harten Kurs einschwören.
Man muss sich auch nicht wundern, wenn er auf seinen Reisen im Land, wie bei einer zunächst geplanten Tour in die konservative Schwarzmeerregion, von Mengen begeisterter Anhänger begrüßt wird. Die Bilder der letzten Tage sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass Erdogan weiterhin über eine große Anhängerschaft verfügt, wenn sie auch in Istanbul etwas gebröckelt sein dürfte. Zum Beispiel versammelte sich gestern eine Gruppe »Antikapitalistischer Muslime« zum Freitagsgebet bei den Gezi-Park-Besetzern.
Hinweise auf die Religion dienen Erdogan zur Mobilisierung seiner Unterstützer gegen die »Vandalen«, alias »Marodeure«, alias »Pestkranken«. Anfangs seiner Rede am Flughafen grüßte er Istanbul, seine Stadtviertel und eine Reihe hauptsächlich von Muslimen bewohnter Städte. Er schloss mit »Damaskus, Gaza, Ramallah, Mekka und Medina«. Erdogan hat sich entschieden, den Konflikt für die Mobilisierung seiner Anhänger auszunutzen, anstatt nachzugeben. Der Riss durch die Türkei wird immer tiefer.
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