An der größten Katastrophe vorbei geschrammt
Im Rheintal entgleiste ein Güterzug - die Ursache könnte auch an fortschreitender Privatisierung liegen
Während das Hochwasser den Bahnverkehr bundesweit behindert, hat die Entgleisung eines Güterzugs im Rheintal am Sonntag zur Vollsperrung der rechtsrheinischen Bahnstrecke zwischen Wiesbaden und Koblenz geführt.
Laut der Bundespolizei war der 620 Meter lange und 750 Tonnen schwere leere Autozug auf dem Weg von Emmerich nach Passau, als gegen 5.20 Uhr bei Lorch die zwei letzten Waggons aus den Schienen sprangen. Der Zug sei erst kurz vor dem rund zehn Kilometer entfernten Bahnhof Rüdesheim zum Stehen gekommen, so der Bericht. Verletzt wurde niemand, der Sachschaden dürfte aber erheblich sein. So durchtrennten die Waggons Kabel, zerstörten Schwellen, Kabelschächte und Weichen und knickten Signalmasten und Geländer um. Fliegender Schotter prasselte auf die nahe B 24 und etliche parkende Autos nieder. Nach Bahn-Angaben dürfte die Strecke frühestens ab Freitag wieder befahrbar sein - zumindest eingleisig. Der Personenverkehr wird auf Busse verlagert, die auf der Nord-Süd-Achse verkehrenden Güterzüge werden weiträumig umgeleitet.
Wie ein Sprecher der Bundespolizei auf nd-Anfrage bestätigte, laufen Ermittlungen zur Feststellung der Unfallursache und wegen Verdachts auf gefährlichen Eingriff in den Bahnverkehr. Nach Angaben aus dem Eisenbahnbundesamt wurden drei Waggons sichergestellt. Experten sollen untersuchen, ob das Unglück von Infrastrukturmängeln oder schadhaften Waggons ausging. Erschwert werden dürfte die Aufarbeitung durch ein Geflecht beteiligter Privatgesellschaften und Instanzen, das an Zustände nach der Privatisierung der britischen Staatsbahn erinnert. So bestand der Zug aus einer Lok der österreichischen Güterbahn Wiener Lokalbahnen Cargo (WLB) und Leasing-Waggons des französischen Touax-Konzerns. Der für Touax tätige Berater und frühere DB-Manager Bernhard Seidenstücker bestätigte dem »nd«, dass derzeit rund 10 000 geleaste Touax-Waggons durch Europa rollten. Zu technischen Fragen wollte er sich nicht äußern. Die Nachfrage bei der Wiener WLB-Zentrale blieb bis Redaktionsschluss ebenso unbeantwortet wie der Anruf bei der für Güterwaggons zuständigen Touax-Filiale in Irland.
Die Entgleisung hat neue Diskussionen ausgelöst. »Die Leute sind froh, dass sie ein paar Tage Ruhe haben«, so der in einer lokalen Bahnlärm-Initiative engagierte Karl-Heinz Bäuml gegenüber »nd«. Forderungen nach Geschwindigkeitsreduzierung in Orten und Nachtfahrverbot für Güterzüge im Mittelrheintal seien in aller Munde. Gleichzeitig hätten viele »das Gefühl, dass sie an der größten Katastrophe vorbei geschrammt sind«, so Bäuml in Anspielung an folgenschwere Entgleisungen von Gefahrgutzügen in Belgien und Italien. Der Privatisierungskurs mit einer unkontrollierten »Vielfalt« zugelassener Bahnunternehmen, unzureichenden Sicherheitsprüfungen und maroder Infrastruktur müsse gestoppt werden, verlangte die Bundestagsabgeordnete Sabine Leidig (LINKE).
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