Armut hält vom Wählen ab

Sinkendes Interesse benachteiligter Menschen an der Stimmabgabe

  • Robert D. Meyer
  • Lesedauer: 3 Min.
Immer weniger Menschen werden in Zukunft an Wahlen teilnehmen, behauptet eine Bertelsmann-Studie. Schuld daran sei nicht Wählerfrust, sondern das wachsende Desinteresse an Politik. Eine entscheidende Rolle spielt der soziale Status.

Geringes Einkommen, niedriger Bildungsstand, kaum Bekannte mit Interesse an Politik und im schlechtesten Fall auch noch jünger als 30 Jahre. So sieht der prototypische Nichtwähler aus, reduziert man eine Studie zur politischen Beteiligung der Bevölkerung der Bertelsmann-Stiftung in Zusammenarbeit mit den Meinungsforschern des Allensbach Instituts auf ihre Kernaussage. Ganz so prototypisch sind dann aber weder die Aussagen der Befragung, noch deren Übertragung auf die Lebensrealität.

Was die Politik ins Grübeln bringen sollte, sind Schlussfolgerungen der Forscher wie diese: »Die Wahlbeteiligung in Deutschland wird auf lange Sicht weiter sinken.« Der dazugehörige Trend lässt sich seit Anfang der 70er Jahre beobachten. Gaben zur Bundestagswahl 1972 noch 91,1 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme ab, waren es 2009 nur 70,8 Prozent. Allerdings gilt diese Entwicklung nicht gleichermaßen für alle Bevölkerungsschichten. Grundsätzlich gehen jene deutlich häufiger zu Wahl, die über ein hohes Einkommen verfügen.

So liegt die Wahlbeteiligung der oberen 20 Prozent der Bevölkerung seit vier Jahrzehnten konstant bei über 95 Prozent. Ganz anders sieht es am unterem Ende der Einkommensskala aus. Hier nahm die Wahlbeteiligung im gleichen Zeitraum um etwa ein Fünftel ab. Ähnliche Unterschiede fanden die Forscher auch im Hinblick auf die Ausbildung. Während schon jetzt 68 Prozent der Menschen mit Abitur oder Hochschulabschluss erklärten, an der nächsten Bundestagswahl teilnehmen zu wollen, ist es in der Gruppe mit Hauptschulabschluss nur jeder zweite. Die Forscher warnen deshalb vor dem »Trend einer sozial zunehmend gespaltenen Demokratie«.

Menschen mit Migrationshintergrund wollen statistisch genauso wahrscheinlich ihre Kreuze in drei Monaten setzen wie der sonstige Bundesschnitt. Eine wichtige Rolle spielt laut Studie auch, ob sich der Bekanntenkreis für Wahlen interessiert und ob im Elternhaus oft über politische Themen gesprochen wurde. Trifft mindestens einer der beiden Faktoren nicht zu, sinkt die Bereitschaft zur Wahlteilnahme. Schuld am Fernbleiben von der Stimmkabine seien laut Studie weder Wählerfrust noch Protest, sondern eine grundsätzliche Gleichgültigkeit gegenüber der Politik. Als Beleg führt Bertelsmann unter anderem die sinkende Zustimmung der Politikdesinteressierten zu Aussagen wie »Ich habe das Gefühl, ohnehin nichts ausrichten, keinen Einfluss nehmen zu können« auf. Den einfachen Schluss, dass aus jahrelanger Politikverdrossenheit mit der Zeit Desinteresse und damit ein Rückzug ins Privat- oder Berufsleben erwachsen kann, ziehen die Studienautoren nicht.

Zudem geben 61 Prozent der Desinteressierten an, sie könnten nicht nachvollziehen, was in der Politik geschieht. Ein kurzer Blick auf die Medienberichterstattung und die Entscheidungen, etwa zur EU-Krisenpolitik, dürfte genügen, um diese Begründung zu verstehen. Verwundern sollte die Feststellung nicht. Vor einigen Jahren ergab eine Befragung, dass eine Mehrheit der Bevölkerung in der Tagesschau verwendete Begriffe wie »Tarifautonomie« nicht erklären konnte.

Die Teilnahme an Wahlen bedeutet allerdings nicht automatisch ein höheres Interesse an anderen Möglichkeiten der Demokratiebeteiligung. So nahmen 38 Prozent der Menschen aus der Unterschicht an einer Demonstration teil. Aus der oberen Mittel- und Oberschicht gingen nur 29 Prozent auf die Straße.

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