Utopie erstickt im Tränengas
Istanbuler Polizei ging massiv gegen Demonstranten im Gezi-Park vor
Eifrig hatten die Bewohner des Istanbuler Gezi-Parks an einem Frühwarnsystem gegen Polizeieinsätze gearbeitet. Doch das braucht es am Dienstagmorgen um 8.00 Uhr nicht: Der Geruch von Tränengas kündet vom Anmarsch der türkischen Polizei. Zwanzig Mannschaftsbusse drängen sich durch die Gassen der Millionenstadt. Fünf Wasserwerfer folgen ihnen. Ein Hubschrauber kreist am Himmel. Von allen Seiten riegeln Polizeihundertschaften den Istanbuler Taksim-Platz ab. Deren Auftreten kann martialischer nicht sein: Gasmasken auf den Köpfen, Schilde vor und über den Körpern, gepanzerte Wasserwerfer im Rücken.
Seit Tagen haben die Besetzer Barrikaden vorbereitet. Die ersten zwei Demonstranten stoßen mit Wellblechschutzschilden bis auf wenige Meter auf die Polizisten vor. Molotowcocktails fliegen gegen die gepanzerten Uniformen.
Die Straße westlich des Gezi-Parks wird für die nächsten Stunden zum Hauptschlachtfeld. Hunderte Tränengasgranaten schießen durch die Luft. Von der anderen Seite folgen Flaschen und Steine. Ein vielleicht 15-jähriger Junge stellt sich todesmutig mit ausgebreiteten Armen vor die Polizei. Gummigeschosse strecken ihn nieder. Ein Mann fängt knapp daneben Feuer, nachdem ein Molotowcocktail sein Ziel verfehlt hat.
Der Anarchist Kamil ist einer der Demonstranten, die sich der Räumung des Taksim-Platzes widersetzen: »Wenn sie es schaffen, die Barrikaden zu räumen, hält sie nichts mehr davon ab, den Park zu stürmen«, schreit er.
Hunderte andere rufen zurück. Unter ihnen türkische Nationalisten, kurdische Separatisten und ein älteres Ehepaar, das gerade noch schockiert am U-Bahn-Ausgang von Demonstranten aus der Tränengaswolke gerissen werden muss. Nur das Sirenengeheul der Krankenwagen. übertönt sie.
Im Park werden unterdessen eilig Gasmasken und Schwimmbrillen verteilt. Andere sprühen sich Milch in die geröteten Augen. Manche kauern am Boden und schluchzen nicht nur wegen des Tränengases: »Nicht einmal in diesem Park lässt uns Tayyip unseren Traum leben.« Tayyip − das ist Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan.
»Lasst ihnen doch die Barrikaden, wir haben den Park«, ruft einer. Viele sind schockiert von der Gewaltanwendung ihrer Mitdemonstranten. »Freunde, wir wollen nur den Platz sauber machen, ihr könnt in eurem Park bleiben«, dröhnt es im Minutentakt aus dem Lautsprecherwagen der Polizei. Dennoch schießt sie später mit Wasserwerfern und Tränengasgranaten den Zugang zum Park sturmreif. Hunderte Uniformierte reißen die Zelte und Stände ab.
Doch zumindest in einigen Fällen hat der Widerstand Erfolg: Mal sind es einige Dutzend, mal Hunderte Demonstranten, die sich vor die Mündungen der Polizeigranatwerfer oder in die Schussbahn der Wasserwerfer stellen. Von den Hängen der verwüsteten Baustelle am Gezi-Park beklatschen Zuschauer jeden Meter, den die Polizei zurückweicht. Bis erneut ein übermutiger Junge mit Guy-Fawkes-(Occupy)-Maske einen Stein wirft und der gesamte Platz in Tränengasschwaden versinkt. Auch am Abend brennen noch Barikaden, sticht im ganzen Stadtteil das Tränengas in die Nase. Es scheint, als ob die Demonstranten im GeziPark mit demselben Geruch einschlafen müssen, mit dem sie aufgewacht sind.
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