Ohne »Queen Mary« wäre das nicht passiert
Ina Göschel aus Niederwiesa
Es war einmal vor Jahren ein Samstagmorgen. Der Kalender zeigt Sommer, doch das Wetter beharrt auf einen wechselhaften Spätfrühlingsregen, der seit Tagen die Temperatur senkt. Ob sich die Sonne auch heute wieder vor Scham verstecken wird?
Gleich wie: Eine junge Frau startet mit dem Fahrrad, auf dessen Gepäckträger in einem blauen Müllsack ein weiß-blauer Seesack verharrt. Zumindest bis zur Brücke, vor der in der einzigen Pfütze alles landet, was doch gerade den Urlaub antreten wollte. Ihre rote Regenmütze ist völlig durchnässt, der Lenker verbogen, und der Sack liegt verkrümmt ein paar Meter weiter auf der Straße. Sie und alle Dinge wundern sich über das jähe Ende der Reise.
Ihr lustlos gestarteter Ehemann, der lieber in den Süden gedüst wäre und gerade begonnen hatte, der sturen Haltung seiner Frau etwas Angenehmes abzugewinnen, sammelt die Habseligkeiten auf und ist nun derjenige, der auf Tempo drängt, bevor ein Auto alles zerfährt oder die Brötchen holenden Dorfbewohner das Schauspiel verfolgen.
Sein zügiger Straßenwechsel, dem sie ebenso schnell gefolgt war, erbrachte diese kurze Richtpause, bevor der erste, aber nicht der letzte Berg genommen werden musste. Dass zwischen Start und der großen Freude, die seine Frau gerade erlebt, ein hungriger gaststättenloser Samstag lag, ein unerwarteter »Aida«-Besuch, eine zusätzliche, kostenfreie Schifffahrt um Hitzacker oder ein Storchenseminar, sei nur am Rande erwähnt.
Nach sieben Tagen hatten sie schließlich ihr Ziel erreicht, so glaubte sie jedenfalls. Kein Wunder. Wenn sie zwischen zwei fast umkippenden Rädern posierte, in für Langstrecken untypischer Kleidung und vor dem Ortseingangsschild von Hamburg, welches die untergehende Sonne optimistisch erleuchtete.
Genauso fröhlich, wenn auch die Spuren der letzten sechzig Kilometer nicht verbergend, trat sie nach dem Fotoshooting energisch in die Pedalen, auf jeden Fall so lange, bis beide erkennen mussten: Zwischen Ortseingang und Stadtzentrum liegen Welten. Ihr Mann rief ein ums andere Mal aus: »Sieh nur! ... Die Gewächshäuser! ... Und die Pferdekoppeln! ... Ist es nicht herrlich? ... So hätte ich mir Hamburg nie vorgestellt!« Sie dagegen verfluchte mit jedem Meter, den sie sich weiter vom Ortseingangsschild entfernten, den Zeitpunkt, an dem sie den Entschluss gefasst hatte, vom sächsischen Riesa an die Nordsee zu radeln.
Zum Trost lenkte ihr Mann die Fahrradstange an einen Gartentisch mit Bedienung. Das gekühlte Alsterwasser steigerte schnell die Laune wieder auf ein erträgliches Maß. Die bisher seltene Abendsonne tat ihr Übriges. So erwartete die junge Frau traditionsgemäß von ihrem Gatten, wie immer kurz vorm Ziel, die Adresse des Hotels, in dem sie den frischen Wasserstrahl als Massage auf die strapazierten Beine lenken konnte.
Erste Anfrage - verneinendes Kopfschütteln; zweiter Anruf - besorgter Blick. Nach dem dritten Versuch benötigten beide einen Schnaps, nach dem siebenten wäre auch sie bereit gewesen, einige Kilometer zurückzufahren, und nach weiteren fünf ergebnislosen Telefonaten blieb das Radlerehepaar ratlos. »Da werdet ihr wohl nichts finden.« Der Wirt, der ihren Enthusiasmus bewunderte, überreichte mit dem Betriebstelefon die letzten Geheimtipps: »Hättet vorbestellen sollen. Morgen Weserradrennen und am Montag Ankunft der »Queen Mary«. »Wer ist das denn?« »Der britische Luxusliner. Das ist immer ein richtiges Fest. Alles seit Monaten ausgebucht.« »Ach, wir haben bisher immer was gefunden.« Ob der Chef, der schon wieder die Gäste bediente, das letzte Wort überhaupt gehört hatte? »Übernachten wir eben auf dem Bahnhof. Mein gesetztes Ziel haben wir ja erreicht.« »Das kann nicht sein! Keine Chance.«
Die Sonnenwärme wich bereits der gewohnten Kälte, die Abendbrotzeit war auch schon vorbei, und sie wussten noch immer nicht, wohin. Mit dem Gedanken an die Bahnhofsmission wich jetzt ihre bisherige Abenteuerlust. »Hättest du mal auf mich gehört und gestern schon angerufen.« Selbst sein Humor begann gerade zu bröckeln, als der Chef amüsiert und mit frischem Glanz in der Stimme vorbeischrie: »Ich hätt da noch 'ne Garage!« »Nehmen wir!«, schrie es einstimmig begeistert zurück. »Und dann bringen Sie gleich mal zwei Bier und zwei Schnaps und etwas zum Essen ebenfalls.«
Die Garage entpuppte sich schließlich als das ehemalige Kinderzimmer mit herrlicher Aussicht auf den Biergarten. Was braucht der Mensch mehr? Vielleicht ein entspanntes Abendessen, wie sie es auch die folgenden vier Tage bis zur Heimfahrt genossen? Natürlich. Es schmeckte damals wie heute.
Und in größeren Abständen besucht das weiterhin unternehmungslustige Ehepaar noch immer den freundlichen Wirt, der sich gern an »seine Sachsen« erinnert und ihnen zeigte, dass Hilfsbereitschaft und Überheblichkeit keine ost-west-typischen Eigenschaften sind.
• Tina Göschel: Ohne Queen Mary wäre das nicht passiert
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