Die alte Dame und ein Büchernarr
Brigitte Beese aus Leipzig (3. Platz)
»Bitte noch nicht anfangen. Ich erwarte noch jemanden.« Der bekannte Schriftsteller schob mit dem Zeigefinger der linken Hand seine Brille über Nasenwurzel und Stirn in den widerspenstigen Haarschopf, seine Rechte ruhte auf dem bereits aufgeschlagenen Buch, das er seinen Hörern vorstellen wollte. Fragend schaute er in die Runde seiner Besucher, die kleine dünne Stimme suchend, die um Aufschub gebeten hatte.
Ich wandte mich um, als einige Reihen hinter mir die Stimme erneut ertönte. Sie gehörte einer schon etwas älteren Dame, die sich jetzt erhob und lächelnd nach allen Seiten nickend um Verständnis bat. »Mein Bekannter muss gleich hier sein. Er konnte einfach keinen Parkplatz finden und hat mich nur schnell hier abgesetzt. Er ist noch etwas besser zu Fuß als ich«, erklärte sie ergänzend. »Also wollte er sich in den Nebenstraßen umsehen. Gleich wird er hier sein«, sagte sie erwartungsvoll.
Ein verständnisvolles Raunen ging durch die Zuhörerschaft. Gespräche über gefundene und nicht gefundene Parkmöglichkeiten machten die Runde.
Der Schriftsteller schob unauffällig den Ärmel seines Pullovers zurück, um auf die Uhr zu schauen. »Wir müssen leider anfangen«, sagte er, Zustimmung erheischend. Die alte Dame nickte. Nachbarn trösteten: »Er kommt sicher gleich, verpasst halt bloß den Anfang.«
Atemlose Stille erfüllte den Raum, die nur von gemeinsamen Lachen oder erleichtertem Seufzen unterbrochen wurde. Die Zuhörer bildeten eine einzige homogene Masse, ein Fühlen, ein Erleben. Bedauern erfüllte die Menschen, als der Autor geräuschvoll sein Buch zuschlug. »Das war es für heute, meine Damen und Herren. Ich hoffe, es hat Ihnen allen gefallen.«
Die Zuhörer klatschten frenetisch, und es wurden noch ein paar Seiten zugegeben. Dann war endgültig Schluss. Man konnte sich noch nicht trennen. Im Vorraum bildeten sich Grüppchen, die sich angeregt miteinander unterhielten. »War das ein schöner Abend.«
Mit einem kleinen Kopfnicken stieß ich meine Freundin in die Seite. »Sieh mal«, flüsterte ich. Verloren stand die kleine alte Dame an der Seite, wohl unschlüssig, was sie nun tun solle. »Wie zart und elegant sie aussieht. Sie hat sich richtig fein gemacht für ihren Bekannten. Warum er wohl nicht gekommen ist?« »Komm, gehen wir zu ihr.«
»Hat es Ihnen gefallen, auch wenn Ihr Freund nun doch nicht gekommen ist?« Sie nickte heftig mit dem Kopf, erfreut, dass sie in die Gespräche ringsum mit einbezogen wurde. »Es war wunderschön. Ich habe mir das Buch trotzdem noch gekauft. Man ist ja neugierig, wie es weitergeht. Geht es Ihnen auch so?«
»Wissen Sie«, setzte sie zutraulich das Gespräch fort, »wissen Sie, mein Bekannter, der hat mich zweimal oder dreimal ins Theater eingeladen. Wir haben uns zufällig im Café kennengelernt - zwei einsame Lebenssegler, na ja, und wollten es miteinander versuchen. Jedenfalls wollte ich mich einmal revanchieren und habe für uns zwei die Karten zu dieser Lesung organisiert.«
Jetzt wurde ihre Stimme wieder dünn und klein. »Ich versteh' gar nicht, wo er geblieben ist. Es ist zwar schwierig mit dem Parken in dieser Gegend, aber einmal muss es doch geklappt haben.« Jetzt ängstlicher werdend: »Es wird ihm doch nichts zugestoßen sein.«
Langsam auf den Ausgang zugehend, beruhigten wir die alte Dame mit allen möglichen und unmöglichen Zufällen, die möglicherweise sein Kommen haben verhindern können. Unschlüssig standen wir noch einen Augenblick auf der Straße herum, was wir wohl nun mit diesem verlorenen Frauchen machen sollten.
»Sie waren sehr nett, ich danke Ihnen«, sagte sie, sich nach allen Seiten umsehend. »Ich warte hier noch ein wenig, vielleicht kommt er ja noch. Wahrscheinlich ist er in ein Café gegangen, um nicht so spät noch in die Veranstaltung zu platzen.« »Das wird es wohl sein«, sagten wir irgendwie erleichtert und verabschiedeten uns.
»Was denkst du, wen ich heute getroffen habe? Es gibt wirklich manchmal kuriose Zufälle.« Ich platzte fast vor Mitteilungsdrang. »Die alte Dame, weißt du, aus der Lesung neulich, die von ihrem Lover versetzt worden ist, die stand neben mir im Supermarkt.« »Das gibt es nicht!« Meine Freundin sah mich neugierig an. »Und, hat sich die Sache aufgeklärt? Sie hat mir so leid getan, als sie da so allein in der Gegend herumstand. Versetzt werden ist ja wirklich nichts Schönes. Hast du sie angesprochen?«
»Das ist vielleicht eine Räuberpistole, kann ich dir sagen. Je oller, desto doller.« Ich machte ein geheimnisvolles Gesicht. »Du machst mich neugierig. Nun rücke schon mit der Sprache raus.«
»Dieser alte Galan hat beim Parkplatzsuchen eine Neue aufgerissen.« »Das ist nicht wahr!« »Doch, ich habe gedacht, das gibt es nur bei jungen Leuten.« Ich schüttelte mit dem Kopf. »Da lässt der diese feine Dame einfach sitzen.« Die Stimme meiner Freundin bebte vor Empörung. »Und, wie hat sie das alles rausbekommen?«
»Ach weißt du, in so einem Kiez spricht sich schnell herum, wenn so ein alter Kerl auf einmal mit einem wesentlich jüngeren Ding aufkreuzt. Irgendeine sogenannte Freundin hat es ihr gesteckt - auch noch mit der richtigen Häme, weil sie neidisch auf das kleine kurze Glück gewesen ist. Sie hat ihr noch gesagt, wie er sich geäußert hätte, er würde doch nicht zu so einer dämlichen Buchlesung gehen, da gäbe es Besseres.«
»Da hatte sie sicher Tränen in den Augen, als sie dir das erzählt hat? Das ist ja infam!« »Nein, hatte sie nicht.« Ich lächelte. »Sie war nicht allein im Supermarkt.« »Nicht?« »Nein, ein feiner alter Herr hatte sie untergehakt und lächelte sie wie ein frisch Verliebter an.« »Das ist ja besser als bei Rosamunde Pilcher!«
Meine Freundin schlug theatralisch die Hände über dem Kopf zusammen. »Sie erzählte mir noch, dass sie mit ihm schon zu einigen Buchlesungen gewesen wäre. Er wäre ein totaler Büchernarr. Leise, so dass er es nicht hören konnte, sagte sie noch zu mir, er wäre absolut die bessere Wahl«.
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