Steigende Löhne mit Abenomics?
Tokio plant Strukturreformen / Analysten und Gewerkschafter sind skeptisch
In Japan könnte bald ein anderer Wind wehen. »Wir dürfen nicht den Anschluss verpassen«, ist ein Spruch, den Premierminister Shinzo Abe seit seinem Amtsantritt im Dezember immer wieder sagt. Sein Land, das in den Siebziger und Achtziger Jahren boomte, ist seit zwei Jahrzehnten praktisch nicht mehr gewachsen. Unternehmen von Weltrang wie Sony oder Panasonic haben ihre führende Stellung eingebüßt. Die Lebensstandards in Japan haben sich nicht mehr merklich erhöht, die Einkommensungleichheit ist gestiegen. Damit dies ein Ende hat, will Abe sein Land nun umkrempeln.
Vergangene Woche kündigte er in einer Rede seine Vorstellungen an. Strukturreformen, der so genannte »dritte Pfeil« der als »Abenomics« bekannten Wirtschaftspolitik, sollen aus dem rigide organisierten Japan wieder ein florierendes, wirtschaftlich auflebendes Land machen. Als Effekt seiner Reformen stellte Abe eine jährliche Einkommenssteigerung von drei Prozent in Aussicht. Das Bruttonationaleinkommen pro Kopf soll binnen zehn Jahren um 1,5 Millionen Yen (12 000 Euro) steigen. Das würde eine beachtliche Zunahme von einem Drittel bedeuten. Doch damit dies funktioniere, mahnte Abe, müsse die Privatwirtschaft mitmachen. »Was von euch gefragt ist, ist aufs Gas zu drücken«, hatte er zuvor vor Unternehmern gesagt. »Fürchtet euch nicht vor Risiken, seid bestimmt, nutzt eure Handlungsfähigkeiten.«
Bei Abes Plänen handelt es sich vor allem um Liberalisierungen. Das betrifft Hürden für Unternehmensgründungen, öffentliche Investitionen, Ausschreibungen und Handelsbeschränkungen. Zudem sollen mehr Frauen in den Arbeitsmarkt integriert werden, die bisher mit einer Beschäftigungsquote von rund 60 Prozent stark unterrepräsentiert sind. Dies soll vor allem durch bessere Kinderbetreuungsmöglichkeiten geschehen. Und um betriebliche Investitionen zu erhöhen, dürfte Abe auch den Arbeitsmarkt deregulieren.
Die Reformpläne, die am Freitag vom Parlament verabschiedet wurden, waren mit Spannung erwartet worden. Mit seiner Wirtschaftspolitik des lockeren Geldes und großer Staatsausgaben hat Abe im Januar zuerst ein gewaltiges Konjunkturprogramm von 170 Milliarden Euro auf den Weg gebracht. Im März setzte er den ihm gefälligen Zentralbanker Haruhiko Kuroda an die Spitzer der Bank of Japan. Durch massive Käufe japanischer Staatsanleihen und eine Verdopplung der Geldbasis binnen zwei Jahren hat es sich die Zentralbank zum Ziel gesetzt, binnen zwei Jahren eine Inflationsrate von zwei Prozent zu erreichen.
Die Maßnahmen haben Wirkung gezeigt. Im ersten Quartal 2013 ist Japans Volkswirtschaft aufs Jahr gerechnet um 3,5 Prozent gewachsen, ein überraschend hoher Wert. Zudem hat sich das Konsum- und Geschäftsklima verbessert. Dies ist nötig, damit Haushalte und Unternehmen mehr Geld ausgeben. Seit rund 20 Jahren plagt sich Japan mit einer leichten Deflation, also einem fallenden Preisniveau.
Zwar hat die Deflation bisher kein Ende gefunden, aber andere Dinge scheinen sich zu richten. Der Tokioter Aktienleitindex Nikkei 225 verzeichnete bis Ende Mai einen Wertzuwachs von 80 Prozent binnen eines halben Jahres. In dieser Zeit hat auch der Yen mehr als ein Viertel seines Werts gegenüber dem Dollar verloren, was die japanische Exportindustrie stärkt. Damit diese positiven Zeichen aber nachhaltig sind, so heißt es von allen Seiten, müsse Japan dringend den nach Staatsausgaben und Geldpolitik so genannten »dritten Pfeil« der Abenomics abfeuern - Strukturreformen.
Ob Abes Ideen dazu nun ein Erfolg werden, ist ungewiss. Bisher erntete er vor allem Kritik. Analysten kritisieren die Maßnahmen als halbherzig, der Nikkei 225 stürzte auf Abes Rede hin wieder ab, der Yen erreichte Ende letzter Woche sogar den stärksten Wert seit Anfang April.
Aber auch Arbeitnehmervertreter sind unzufrieden. »Die Pläne sind nichts Neues«, sagt Keisuke Fuse vom Gewerkschaftsbund Zenroren. »Es wird zu zahlreichen Entlassungen kommen, denn er will den Kündigungsschutz lockern.« Eine Idee Abes ist die Schaffung einer neuen Kategorie von Angestellten, die im Fall wirtschaftlicher Probleme problemlos entlassen werden können. Auch das Versprechen der jährlichen Einkommenszuwächse von drei Prozent sei mit Vorsicht zu genießen. Zum einen müsse dafür die Inflation zwei Prozent erreichen, sodass real nur noch ein Prozent übrig bliebe. Zum Anderen, kritisiert Fuse, habe Tokio bisher keinen Plan offenbart, wie dies geschehen soll. »Im Zusammenhang mit einer Steigerung des Bruttonationaleinkommens steht das jedenfalls nicht«, so Fuse. Diese Kennzahl bezieht auch die Einnahmen von Unternehmen ein, ist also kein Indikator für Löhne.
In der Regierungszeit von Abes liberalerem Vorgänger Junichiro Koizumi, zwischen 2001 und 2006, ist das Nationaleinkommen immerhin um 180 000 Yen gestiegen. »In dieser Zeit ist das Durchschnittseinkommen der Japaner um 160 000 Yen gesunken.« So sei es kein Zufall, sagt Fuse, dass Shinzo Abe seine Reformvorstellungen zuallererst vor Unternehmensvertretern vorgetragen hat.
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