Auf dem medialen Schafott
Vom Terror der Bilder - Geschichte eines unheilvollen Siegeszugs
Es begab sich im 11. Jahrhundert. Die aus Byzanz stammende Dogaressa von Mailand fiel am Tische Orseolos II. durch die Benutzung einer Gabel äußerst unangenehm auf. Was bei den Byzantinern längst als etabliert galt; in der Republik Venedig war es ein ausgesprochener Skandal. Damals wurde am fürstlichen Hof noch mit den Fingern gegessen. Wie der Anthropologe Bernhard Rathmayr berichtet, wirkte der Einsatz eines solchen »Distanzierungsinstruments« als eine so eitle und übertriebene Geste, dass sie als »Affront gegenüber den Tischgenossen« gewertet wurde. Doch die Tischsitten änderten sich. Bis jedoch die Gabel sich an europäischen Tafeln etablieren sollte, vergingen noch Jahrhunderte. Was indes den Gebräuchen bei Hofe widersprach, wurde sprichwörtliche Unhöflichkeit. Die Vermeidung von körperlicher Nähe sollte in jeglicher Hinsicht bald zum guten Ton gehören. Die Wahrung von Abstand, mit Gabel, Glacéhandschuhen und distanzierter Geste, wurde zum Ausdruck von Kultiviertheit schlechthin.
»Für das Gefühl vieler Chinesen ist die Art, wie die Europäer essen, unkultiviert«, so Norbert Elias in seinem Werk ›Prozess der Zivilisation‹. Die Europäer galten dort als Barbaren, da sie mit dem Schwert äßen. Gemeint war damit der Gebrauch eines Messers. In der Tat ein Tötungsinstrument bei Tisch. Auch heute noch zeugt die Abrundung der Spitze des Tafelmessers von der fortgeschrittenen »Entwöhnung von direkter Gewaltsamkeit«. Doch auch in Bezug auf das Schwert zeigte sich im fernen Osten eine andere Kultur. Im Gegensatz zum europäischen Schwertkampf wurden Kampfbewegungen bei den Samurai eher schneidend denn schlagend eingesetzt. Hierzulande kämpfte man mit vergleichsweise klobigen Hieb und Stichschwertern. Anders im fernen Osten, wo Leichtigkeit und Schärfe bestimmten. Beim Harakiri galt eine besonders scharfe Klinge als große Ehrerbietung. Das Schwert des Sekundanten teilte dabei den Kopf vom Rumpf, ohne ihn jedoch gänzlich abzutrennen. Das hätte als ehrlos gegolten, denn so wurden gemeine Verbrecher gerichtet. Harakiri war jedoch den Adligen vorbehalten und galt der Wiederherstellung der Ehre nach Gesichtsverlust.
Vor der Einführung der Guillotine wurde die Strafe des Enthauptens bei uns mit dem Schwert oder dem Richtbeil vollstreckt. Das Abtrennen des Kopfes durch die Klinge galt hier nicht als unehrenhaft. Ganz im Gegensatz zum qualvollen Tod durch den Strang, dem sich zu stellen nichts Ritterliches anhaftete. Daher war also auch hier die Enthauptung dem Adel vorbehalten. Im Zuge der Französischen Revolution wurde dieser Klassenunterschied abgeschafft. Da vor dem Gebrauch des Fallbeils aber bei vielen Hinrichtungen mal ein Hieb daneben ging, ließ sich der barbarische Charakter des Scharfrichtens kaum leugnen.
Hinrichtungen waren öffentliches Spektakel. Zunächst ging es dabei eher um die öffentliche Darstellung der Marter. Vielfach waren es quälerische und langatmige Folter- und Tötungsprozeduren. Teils dienten sie der Abschreckung, teils der Selbstdarstellung der Obrigkeit. Die neue Macht des Volkes repräsentierte sich anders. Fortan war man bei Ausübung von Staatsgewalt um die Darstellung der eigenen Rechtschaffenheit bemüht. Die Republik konnte nicht mehr auf das althergebrachte Repertoire aristokratischer Legitimationen zurückgreifen. Man rechtfertigte sich nunmehr mit Gerechtigkeit und Gleichheit. Vom Anruch der Rachsucht oder der Willkür der Aristokratie distanzierte man sich - dank der Köpfmaschine des Dr. Guillotin.
Das »Richten mit trockener Hand« wurde also dem »Richten mit blutiger Hand« vorgezogen. Es entsprach dem erwachenden Diskretionsbedürfnis der Strafe ausübenden Macht. Die Guillotine versprach einen präzisen Schnitt und einen schnellen und »humaneren« Tod. Exekutionen mit technischen Distanzierungsmitteln werden zum geheimen Ausdruck von Zivilisiertheit. Zunehmend verschwindet die Bestrafung aus der Öffentlichkeit. Früher waren die Bestrafungen öffentlich und die Prozesse geheim. Heute ist es eher umgekehrt. Wir reagieren unserer Tage auf Steinigungen und Exekutionen durch martialisches Gerät mit Empörung, während offenbar der elektrische Stuhl, die Gaskammer oder die Giftspritze weniger Abscheu hervorrufen: Bei diesen Tötungsarten wird die Gewalt an Maschinen delegiert. Wie es scheint, bewahrt uns auch hier der Einsatz von Distanzierungsgeräten vor der Offenbarung der eigenen Barbarei.
Auch die Tatsache, dass Bilder hiervon reglementiert sind und wenig zirkulieren, verschont uns. Was sich in unserer visuellen Kultur nicht in Bildern darstellt, kommt kaum noch in Erklärungsnot. Vor wenigen Jahren wurde in einigen Teilen Amerikas die Fernsehübertragung von Exekutionen diskutiert. Der Frage, ob das gut oder schlecht sei, mangelt es nicht an Komplexität. Würde es Abschreckung vor Verbrechen hervorrufen oder Abscheu gegenüber der Macht?
Nicht selten werden heute kriegerische und gewalttätige Akte dank technoider Bildproduktion in einer Weise darstellbar, welche die Ausübenden nicht als unmenschlich erscheinen lässt. Wenn man so will, sind Guillotine, präzisionsgelenkte Munition oder aktuell der Einsatz von Drohnen Sublimierungen dieser Technik. Längst eignen sich die Bilder, die wir aus Irak- oder Afghanistankrieg kennen, nicht mehr, um die Brutalität des Krieges darzustellen. Zu abstrakt sind sie und zu sehr repräsentieren sie die Technologien, die sie hervorbringen.
Die Nationalsozialisten führten den Tod durch öffentliche Strangulation als besonders entwürdigende Todesart für politische Gegner wieder ein. Dies war Teil eines Terrors, der eben auch mit öffentlicher Darstellung operierte. In den späten sechziger Jahren machte ein Foto des Bildjournalisten Eddie Adams Geschichte. Es zeigt, wie der Polizeipräsident von Saigon aus nächster Nähe einen Vietcong-Kämpfer mit einem Kopfschuss hinrichtet. Das Bild bewegte die Weltöffentlichkeit, schien es doch die Brutalität der westlichen Welt zu entlarven. Der Zeitpunkt, da das Bild an die Öffentlichkeit gelangte, markiert wohl den Beginn einer neuen Macht der Bilder. Manche US-Politiker machten sogar die Medien dafür verantwortlich, dass die USA den Krieg verloren, da an der sogenannten Heimatfront der Rückhalt aufgrund solcher Aufnahmen bröckelte. Besagtes Bild ist vielleicht die Ikone einer sich demokratisierenden Bildpolitik. Der Umlauf der Bilder entzieht sich immer weiter staatlicher Kontrolle. Die Bilder machen ihre eigene Politik. Der Fotograf selbst sagte später über sein Bild: »Der General tötete den Vietcong; mit meiner Kamera tötete ich den General. Standfotos sind die mächtigste Waffe der Welt. Man glaubt ihnen, doch Fotos lügen, selbst wenn sie nicht manipuliert sind.«
Enthauptungen von Soldaten durch Al-Qaida-Kämpfer vor laufender Kamera sollen Terror verbreiten. Einen Terror der Bilder. Die so entstehenden Darstellungen werden mittels neuester Kommunikationsformen dem westlichen Bilderregime entgegengestellt. Videoplattformen und soziale Netzwerke werden zum medialen Schafott. Dabei dienen diese Bilder ihren Feinden mehr, als dass sie ihnen schaden. Dankbar nimmt das westliche Selbstverständnis den Beleg für den barbarischen Charakter anti-westlicher, anti-aufgeklärter Ideologien entgegen. So arbeiten Terroristen ungewollt den westlichen Propagandamaschinen zu.
Die im Mai aus England gemeldete Tötung und Beinahe-Enthauptung eines britischen Afghanistan-Soldaten durch Islamisten bediente denselben Effekt. Mediengeil inszenierten sich die Mörder mit dem Schlachtemesser. Es war klar: Was sie taten, taten sie für die Kamera. Es ist die Antwort auf die Abstraktion der Kriegsbilder. Das Motiv ist dabei nicht neu. Die Barbarei des Krieges in die westlichen Metropolen zu bringen, war bereits Inspiration des Flugblatts Nr. 7 der Kommune I, das zwischen brennenden Konsumenten und »knisterndem Vietnamgefühl« Verbindungen zog. Jedoch hat sich die Instrumentalität der Bilder heute vollkommen geändert. Es geht nicht mehr darum, die Brutalität des Krieges zu vergegenwärtigen. Die Bilder sind selber zu Waffen eines Krieges geworden, der gerade mit Archaik die technologische Macht zu bekämpfen sucht. Während die westliche Staatsgewalt sich bei Tötungen auf den Schutz der Gemeinschaft oder des Weltfriedens beruft, sieht sie sich plötzlich einer zivilisatorisch zutiefst abgelehnten Bestrafung und Vernichtung des Körpers ausgesetzt, die sich darüber hinaus nicht legitimieren zu wollen scheint. Die Willkürlichkeit dieses Terrors versetzt uns in Panik.
Gelingt es uns nicht, uns vom Terror der Bilder zu distanzieren, so hat dieser bereits gesiegt.
Diego Castro, 1972 in Hannover geboren, ist Künstler, Kurator, Dozent und Publizist.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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