Der Taksim-Platz liegt in Europa

  • Michael Meier
  • Lesedauer: 4 Min.

Vier Todesopfer, tausende Verletzte, hunderte Verhaftungen, zerstörte Sachwerte in Millionenhöhe, Milliarden Euro Verluste an der Istanbuler Börse, im Tourismus und Einzelhandel - das ist die nackte Zahlenbilanz nach mehr als drei Wochen Auseinandersetzung zwischen der türkischen Regierung und den Aktivisten einerseits. Andererseits hat sich aus einem ungeplanten, spontanen Umweltprotest gegen die Bebauung eines Parks eine der größten Protestbewegungen in der Türkei seit Jahrzehnten entwickelt; eine junge, meist urbane Generation ist für mehr Mitbestimmung und Demokratie auf die Straße gegangen.

Erst die übertriebene Härte der Polizei gepaart mit der martialischen Rhetorik des Ministerpräsidenten brachten eine ungewöhnliche Koalition auf die Straße: Studenten und Hausfrauen, Kommunisten, Nationalisten und Kemalisten, Anhänger der drei großen Fußballclubs, Gewerkschafter und Schwulenverbände. Etwa zwei Drittel der Demonstranten sind unter 30 Jahre alt, mehr als die Hälfte hat noch nie an einer Demonstration teilgenommen und 70 Prozent fühlen sich keiner politischen Partei nahe.

Die Türkei blickt auf eine atemberaubende Entwicklungsdekade: Sie hat ihr Bruttosozialprodukt verdreifacht, die Staatsverschuldung reduziert, riesige Privatisierungs- und Infrastrukturprojekte auf den Weg gebracht, ist in den G20-Club aufgenommen worden und ist EU-Beitrittskandidat. Die kulturell konservative, politisch autoritäre und ökonomisch liberale AKP sorgte für Stabilität und eilte seither von einem Wahlsieg zum nächsten. Die Macht des Militärs wurde gebrochen, die verkrustete Justiz modernisiert, die Putschverfassung soll durch eine neue, zivile Verfassung ersetzt werden. Sogar in das wichtigste Thema der türkischen Innenpolitik - dem Kurdenkonflikt - geriet Bewegung.

Gleichzeitig steht es aber schlecht um die Pressefreiheit, können sich Gewerkschaften nicht frei entwickeln, werden tausende Menschen unter Terrorismusverdacht seit Jahren in Haft gehalten. Ein zunehmend autoritärer Führungsstil besonders des Ministerpräsidenten - mit Kuss- und Alkoholverbot oder der Aufforderung drei Kinder zu haben - trifft besonders bei der heranwachsenden Generation auf Widerstand. Nach der wirtschaftlichen Entfaltung folgt nun die politische Emanzipation ohne das verkrustete Parteiensystem zu fragen; die Zivilgesellschaft hilft sich selbst.

Seit Beginn der Unruhen plädieren viele konservative europäische Politiker für eine Pause oder gar den Abbruch der Beitrittsgespräche. Alte Anti-Türkei-Argumente von der Andersartigkeit, der Unreife, einer drohenden Islamisierung (gar Iranisierung) oder einfach der Bestrafung der Regierung für die Menschenrechtsverletzungen werden in unterschiedlichen Variationen und Dosierungen verbreitet. Dabei macht es ihnen die türkische Regierung um Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan leicht, da sie auf die gleiche Pauke von der anderen Seite hauen: Wir brauchen die EU nicht, sondern sie braucht uns, lautet der gängigste Slogan hierzulande. Gegenwärtig werden geplante Gespräche im Stundentakt abgesagt, Beschuldigungen erhoben und Warnungen ausgesprochen.

Dabei ist Europa seit vielen Jahrhunderten Orientierungspunkt der Türkei, ein Trend, der seit der Republikgründung noch wesentlich verstärkt wurde, als Modernisierung mit Europäisierung gleichgesetzt wurde. Die institutionelle Annäherung mit der Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens vor 50 Jahren war deshalb nur konsequent. Allein die Aussicht auf die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen im Jahre 2005 führte zu enormen Demokratisierungsschüben, die die gesamte Gesellschaft erfassten und deren Auswirkungen heute auf dem Taksim-Platz und in der gesamten Türkei zu spüren sind. Die dort demonstrierenden Menschen fordern europäische Werte: Demokratie, Pluralismus, Rechtsstaatlichkeit, Medienfreiheit. Dafür brauchen sie den Rückhalt der EU und die Beitrittsperspektive.

Gegenwärtig steht die Eröffnung des Kapitels 22 zur Regionalpolitik auf der Kippe. Wirklich dringend notwendig sind aber auch die Eröffnung der Verhandlungskapitel 23 und 24 über Justiz und Grundrechte bzw. Sicherheit, Freiheit und Recht, die wir Europäer selbst blockiert haben. Beide Seiten müssen die Annäherung vorantreiben, indem sie völlig neue Politikansätze wie eine schrittweise oder sektorale Mitgliedschaft wagen. Die Türkei mit der Eröffnung oder Nichteröffnung von Kapiteln zu gängeln, ist alter Politikstil - sie bei ihren eigenen Aussagen und Realitäten zu messen sehr viel eleganter und zielführender.

Dabei muss Deutschland seiner Verantwortung aufgrund der besonderen und sehr alten Beziehungen zur Türkei, der engen wirtschaftlichen Verflechtung und der fast drei Millionen türkischstämmigen Menschen unter uns gerecht werden.

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