Erdogans Menetekel
Demonstranten in Istanbul antworten auf Pfeffergas mit gepfefferten Wandparolen
Die Proteste gegen die Regierung von Recep Tayyip Erdogan dauern nun schon die dritte Woche an. Angesichts der ständigen Polizeigewalt, weichen die Demonstranten auf neue Formen des Protests aus. Berühmt geworden, ist der »duran adam«, der »stehende Mann« oder »stehende Mensch«. Leute bleiben einfach stehen und schauen stundenlang einzeln oder in Gruppen auf eine bestimmte Stelle, etwa auf den Gezi-Park oder das Atatürk-Kulturzentrum am Taksim-Platz oder auf ein Büro der regierenden AK-Partei.
Die Polizei reagiert darauf unterschiedlich, vom Gewährenlassen über das vergebliche Angebot von Tee, bis zu Festnahmen und der Verhängung von Bußgeldern. Auch die Politik tut sich schwer mit den »stehenden Menschen«, kann man sie doch schlecht einfach als »Vandalen« oder »Räuber« bezeichnen, wie es Erdogan mehrmals mit den Demonstranten getan hat. Erdogans Stellvertreter Bülent Arinc, der mit dem Einsatz des Militärs gedroht hatte, lobte die neue Protestform sogar. Andererseits warnte er vor den gesundheitlichen Folgen langen Stehens. Länger als acht Minuten sollte man das laut Arinc nicht machen …
Eine andere Waffe der meist jugendlichen Demonstranten ist ihr Humor. Gerade der pathetische Erdogan steht humoristischen Angriffen ziemlich hilflos gegenüber. Die Bezeichnung »Räuber«, »capulcu« ist ihm schon als Bumerang zurückgekommen, indem sich die Protestierenden nun selbst so bezeichnen und damit Erdogans groteske Übertreibung offenlegen.
Zeichnungen und Witze zu Lasten des gestrengen Ministerpräsidenten und seiner Polizeikräfte kursieren in Mengen im Internet, und ein reichlicher Niederschlag davon findet sich auf allen möglichen Mauern in Istanbul. Hier eine kleine Auswahl: Da verspricht jemand der Polizei: »Polizist, meine Lippen werden zusammengeklebt bleiben.«
Ein anderer fordert auf: »Polizist, sei nicht schlecht!« Weit verbreitet ist folgende Empfehlung, die nicht nur angeschrieben, sondern auch in Sprechchören gerufen wird: »Polizist, verkaufe Kringel, führe ein ehrbares Leben!« Ein Wandschreiber im pfeffergasumnebelten Istanbul schreibt: »Nun reicht es, ich rufe jetzt die Polizei!« Ein anderer findet jedoch »Dieses Gas ist wunderbar!« Manchem kommen da schon rührende Gefühle: »Bruder Polizist, du bringst mich wirklich zum Weinen!« Andere klären auf: »Kerl, fürchte dich nicht, wir sind es, das Volk!« Außerdem verspricht man »Gemütlichkeit im Aufstand«.
Seine Freude über den Aufruhr versucht der Schreiber des folgenden Spruches erst gar nicht zu verbergen: »Es ist schwer, im Juni zu sterben.« So werden nun auch Mitstreiter eingeladen: »Herzlich willkommen beim Widerstand!« Doch alles kann man in diesem Protestmonat ja nicht machen. Wegen der Einschränkungen für den Verkauf von und die Werbung für Alkohol wurde bereits das erste Weinfest auf der Insel Bozca Ada abgesagt.
Andererseits hat dieser Eingriff in das Privatleben viele aufgeschreckt, die vorher nicht an eine Reislamisierung von oben glaubten. Ein Wandsprüher meint dazu: »Mit dem Alkoholverbot ist das Volk nüchtern geworden.«
Natürlich bleibt auch der Ministerpräsident vom Spott auf den Mauern nicht verschont: »Wie ist der Geruch der Einsamkeit, Tayyip?« fragt da jemand. Als dieser noch auf einer Afrika-Reise weilte, hieß die Parole: »Wie auch immer, komm nicht zurück!« Jemand warnt ihn auf Englisch: »Tayyip, winter is coming«. Unter Anspielung auf eine Durchsage in der U-Bahn von Ankara, gegen das öffentliche Küssen schreibt einer ganz frech: »Wir küssen uns ohne Unterbrechung, Tayyip!«
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