Russland: 1000 Euro für ein Kind

Schülerinnen und Studentinnen sollen in Russland mit Geld in eine frühe Schwangerschaft getrieben werden

  • Ewgeniy Kasakow
  • Lesedauer: 4 Min.
Russinnen sollen Kinder kriegen, am besten so früh wie möglich, so eine neue Kampagne.
Russinnen sollen Kinder kriegen, am besten so früh wie möglich, so eine neue Kampagne.

Die Russen werden immer weniger. Seit Jahren bestimmt das Thema Demografie die Schlagzeilen. Und seitdem im vergangenen September die Vorsitzende des Duma-Ausschusses für Familienschutz und Mutterschaft, Nina Ostanina, von der Notwendigkeit einer »demografischen Sonderoperation« sprach, vergeht kaum eine Woche ohne neue Vorschläge, wie die Staatsbürgerinnen Russlands dazu gebracht werden sollen, mehr Kinder zu gebären.

Als im Januar Natalja Agre, Abteilungsleiterin im Bildungsministerium, die Wiedereinführung von Disco-Abenden an Schulen nach spätsowjetischem Vorbild zwecks schnellerer Familiengründung vorschlug und beklagte, dass lediglich acht Prozent der jungen Menschen zwischen 18 und 21 Jahren sich als Teil einer »Keimzelle der Gesellschaft« sehen wollen, reagierte die Öffentlichkeit noch belustigt. Die neuesten Vorstöße mehrerer Regionen, schwangere Schülerinnen und Studentinnen mit Geld und Privilegien zu unterstützen, sorgen hingegen für Aufregung.

Jede zweite russische Region zahlt für Schwangerschaft

Im Dezember 2024 verfügte der Gouverneur der zentralrussischen Region Orjol, Andrei Klytschkow, allen Studentinnen mit russischer Staatsangehörigkeit bei Geburt eines Kindes 100 000 Rubel (knapp 1000 Euro) auszuzahlen. In Russland beginnen viele Menschen ihr Studium bereits mit 17 Jahren. Ende März wurde die Regelung auf Schülerinnen ausgeweitet und fand schnell Nachahmer. So zahlt die Nachbarregion Brjansk schwangeren Schülerinnen 150 000 Rubel (1500 Euro).

Mittlerweile haben mehr als 40 Regionen nachgezogen und beinahe täglich werden es mehr. Die Region Rjasan lässt beispielsweise schwangere Studentinnen per »sozialem Taxi« subventioniert zu Prüfungen fahren. Die Zahlungen für den Mutterschaftsurlaub wurden auf 75 000 bis 235 000 Rubel (750 bis 2350 Euro) je nach Region erhöht. Jana Lantratowa, Duma-Abgeordnete der patriotisch-konservativen Partei Gerechtes Russland – Patrioten – Für die Wahrheit, forderte darüber hinaus, Schwangere und junge Mütter nicht wegen schlechter Noten zu exmatrikulieren. Stattdessen sollen Hochschulen gesonderte Lehrpläne für studierende Mütter erarbeiten, um Mutterschaft und Bildung zu vereinbaren.

Kritik an Förderung von Teenagerschangerschaften

Andrei Tkatschew, Erzpriester im Moskauer Umland und eine der skandalträchtigen Figuren der Russisch-Orthodoxen Kirche, ist das nicht genug. In seinen Predigten greift er Mädchen an, die mit 15 Jahren keinen Kinderwunsch verspüren und sich nicht auf ihre Rolle als Mütter vorbereiten. Karrierepläne würden nur von der Bestimmung ablenken, Mutter zu sein, behauptet Tkatschew.

In den Jubelchor der neuen vermeintlichen Geburtenförderung mischen sich aber auch kritische Stimmen ein. Ksenija Gorjatschewa von der liberalen Partei Neue Leute prangert die Bewerbung von Teenagerschwangerschaften an: »Wenn ein Kind ein Kind gebärt, ist es keine Heldentat, sondern eine Tragödie.« Unterstützung sei wichtig, allerdings sollte sie psychologisch, medizinisch und sozial sein. »Das Ganze wirkt eher wie eine Normalisierung der Teenagerschwangerschaft, als dass man sich um die Zukunft kümmert«, beschwerte sich Gorjatschewa auf Telegram.

Idee Teil der Kampagne für mehr Geburten

Der Bildungsblogger Pawel Astapow sieht in Vorschlägen wie den Sonderlehrplänen die Gefahr, dass Frauen weniger statt mehr Bildung bekommen. Ein solches Verbot könne dazu führen, dass Bildungseinrichtungen verstärkt an Männern interessiert sind und sich die Chancen von jungen Müttern am Arbeitsmarkt verschlechtern.

Viele Beobachter wittern in den Zuwendungen des Staates den ersten Schritt, Frauen zu mehr Nachwuchs zu verpflichten. Die sozialen Maßnahmen zur Besserung der Lage junger Mütter gehen Hand in Hand mit der Propaganda gegen Feminismus und freiwillige Kinderlosigkeit. Dazu passt die immer stärkere Einschränkung des Abtreibungsrechts in vielen Regionen. In mindestens drei Regionen sollen Frauen jetzt durch Puppen in Form eines Embryos von der Abtreibung abgehalten werden.

In der Gesellschaft sind frühe Schwangerschaften stigmatisiert

Das zentrale Problem der neuen Kampagne ist jedoch, dass sie unter konservativen Vorzeichen in einen Konflikt mit den Wertevorstellungen der Mehrheit der Gesellschaft gerät. Außerhalb der Nordkaukasusrepubliken Inguschetien, Tschetschenien und Dagestan werden allzu frühen Ehen, die der Ausbildung und dem Erlangen ökonomischer Sicherheit in die Quere kommen, offensichtlich nicht goutiert. Noch weniger gern gesehen sind frühe Schwangerschaften, die meist eine Stigmatisierung nach sich ziehen.

Abwertende Witze wie »Was haben ein sowjetisches Auto und eine schwangere Schülerin gemeinsam – beide sind eine Schande für die Familie«, kursierten bereits in der UdSSR und sind noch heute im Umlauf. Sendungen wie »Schwanger mit 16« liefen im russischen Fernsehen unter dem Vorzeichen der Zurschaustellung sozialer Katastrophen. Auffällig ist auch, dass die Frage nach den Vätern in der ganzen Debatte nicht auftaucht.

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