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So viele Gesichter, Gerüche, Geräusche
Günter Liehr zeichnet mit seinem Band »Marseille« das »Porträt einer widerspenstigen Stadt«
Am 2. Juli 1792 marschierte ein Bataillon von über 500 Freiwilligen von Marseille nach Paris. Der Hilferuf kam aus der Hauptstadt, wo man der Unterstützung aus dem Süden bedurfte. Die Monarchie unter Louis XVI sollte gestürzt werden. Auf dem Weg dorthin sangen die Revolutionäre »mit schmetternder Inbrunst« ein Lied, das später die Nationalhymne Frankreichs werden sollte: »La Marseillaise«.
Marseille als Hochburg der Revolution, als Herd der Avantgarde, dieser Charakteristik geht der in Marseille und Paris lebende Journalist und Schriftsteller Günter Liehr in seinen historischen Ausführungen nach. Er blickt auf Ereignisse der letzten 200 Jahre, welche die mediterrane Hafenstadt am meisten geprägt haben. Nie wollte sich diese Stadt, deren Wurzeln in die griechische Antike zurückreichen, dem Diktat der Zentralmacht beugen. Bis heute.
Marseille ist dieses Jahr neben dem slowakischen Košice Kulturhauptstadt Europas. Eine Stadt mit vielen Gesichtern: Tor zum Süden, Kolonialkapitale, Sammelpunkt eines internationalen Proletariats, Ganovenhochburg und nicht zuletzt Ziel von Einwanderern. Liehr führt vor Augen, wie das »Bevölkerungsmosaik« aus Italienern, Armeniern, Schwarzafrikanern, Algeriern, Tunesiern, Marokkanern, Indonesiern nebst entsprechender religiöser Ausrichtungen und Sprachen zu sozialen Konflikten führte, aber eben auch zur kulturellen Vielfalt Marseilles beitrug.
Er greift gerne auf Schriftsteller zurück, um zeitgeschichtliche Ereignisse zu belegen. So begegnet man Friedrich Engels, der sich anerkennend über die okzitanische Sprache äußerte, dem Marseiller Volkspoeten Victor Gelu, Egon Erwin Kisch, der in seinen Reiseberichten mitunter auch voreilig urteilte, Siegfried Kracauer, der fasziniert war von den Straßen Marseilles, Joseph Roth, der sich von den »akustischen Geräuschen« beeindruckt zeigte oder auch Anna Seghers, die dort ihren Roman »Transit« begann, den sie 1942 in Mexiko beendete.
Ja, auch dafür ist Marseille bekannt: Viele Intellektuelle, Künstler, Schriftsteller versuchten, das Tor des Südens zu nutzen, um den Nazis und deren französischen Handlangern zu entkommen.
Ganz zurücknehmen kann sich Liehr beim Nachzeichnen der bewegten Historie der Hafenstadt nicht. So fließen in seine analytischen Darstellungen mitunter humorvolle Ironie, Sarkasmus, selbst Missfallen hinein, was zum Beispiel die städtebauliche Entwicklung zu einer »mediterranen Dienstleistungsmetropole« betrifft. Da meint der Autor, in den »traditionellen Marseiller Trägheitsmomenten« auch einen Akt des Widerstands zu erkennen.
Sieht man über einige zähe Passagen hinweg, in denen sich der Journalist in Detailbeschreibungen verliert, ist diese Geschichte der ältesten Stadt Frankreichs lesenswert. Ja, man möchte sofort losfahren. Mit diesem Buch unterm Arm, auf der Suche nach den vielen Gesichtern, Gerüchen und Geräuschen Marseilles.
Günter Liehr: Marseille. Porträt einer widerspenstigen Stadt. Mit Farbfotos von Orlando Piña und historischen Bildern. Rotpunktverlag. 336 S., br., 29,90 €.
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