Das Leben kam zu sich

Christine Pitzke erspürt in Südfrankreich den Zauber der »kleinen Bilder«

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 3 Min.

Ein ganz besonderes Buch, eines, das Stille schenkt. Es ist nicht spannend. Nichts Spektakuläres geschieht, was manchen Erwartungen vielleicht zunächst widerspricht. Denn was könnte in einem Hotel nicht alles passieren, ganze Fernsehserien ließen sich daraus machen.

Die Gestalten, denen man hier begegnet, gäben eine Menge dafür her. Was für dramatische Lebensgeschichten stecken in ihnen. Ines Hoegner hat einen Giftanschlag überlebt, die halbwüchsige Olga als ganz kleines Kind einen Autounfall, bei dem ihre Eltern starben. Silvie arbeitet in einem Labor, nun ist sie schwanger von Paul, einem womöglich sehr klugen Menschen, der aber für ein normales Familienleben nicht geeignet ist.

Eigentlich sind ja alle in sich zurückgezogen. Reymont, die Hauptgestalt, ein »Eremit unter Eremiten«, hatte eines Nachts die Koffer gepackt und seine Frau verlassen, weil die in die Politik gegangen war; »darin wollte er keinen Platz«. So heißt es. Was er noch verbirgt, erfahren wir nicht.

So viel Stoff für einen handlungsprallen Roman. Christine Pitzke häuft ihn vor uns an - bedient euch! Aber sie selbst macht mit leisem Lächeln einen Bogen darum. Denn ihr steht der Sinn danach, etwas rational nicht Fassbares zu ergründen: einen Lebenszustand, wie man ihn selber gerne hätte. Eine andere Ebene der Zeit. Deshalb wählte sie als Handlungsort des Romans Südfrankreich. Nicht Deutschland, weil dort, leider, alles viel zackiger zugeht. Deshalb musste es ein Hotel sein, weil sich darin das Zeitweilige allen Lebens fassen lässt. Zwangloses Aufeinander-zu-Gehen und Beisammen-Sitzen, ohne dass irgendetwas drückt. Geht das überhaupt? Würde man in jenem Hotel in La Ciotat dazu kommen? Warum nicht gleich hier und jetzt?

Reymont an der Rezeption schaut sich die neu ankommenden Gäste an und hört in ihr Gepäck hinein. »Hatten sie etwas Morgiges dabei, und damit meinte er nicht saubere Wäsche oder frisch gefaltete Taschentücher, er meinte das Unerkennbare, das Unbeirrte, Großzügige, auch Fehlerhafte, er hörte in die Koffer hinein: Wie hatten die Gäste ihr Leben instrumentiert?« Mit diesem Passus gleich am Anfang des Buches wird schon mal eine Probe gemacht, ob man mit der Autorin auf gleiche Wellenlänge kommen kann.

Reymont zog es nicht mehr in die Ferne, um etwas Neues, Besonders zu erleben. Er »hatte das Gefühl, hier an seinem Platz achtgeben zu müssen. Worauf? Vielleicht auf das Leben selbst und seine kleinen Bilder, auf die Veränderungen jeden Tag.« Was verändert sich denn? Grob betrachtet, wenig.

Aber hier werden feinere Sichten durchprobiert. »Wiederholungen, die keine waren, sondern Ähnlichkeiten«, keine Neugier mehr auf das Ungeheure, sondern auf »Zwischenräume«. »Und was es zu sehen gab, war weder stetig noch stückhaft, sondern in allen Teilen immer in Bewegung und ganz und zerstreut.« Zuschauen, wie sich Hühner bewegen, den Geräuschen des Nachmittags lauschen. Ja, »es gab ein inneres Ohr, das sich öffnen konnte«.

Die Kapitelüberschriften: Fragen. Wobei es nicht um Antworten geht, sondern um Einstellungen. Ob man die »herrlichen und sich erneuernden Handlungen des Alltags« als solche erkennen, ob man nicht nur das weite Meer, sondern auch das Gras vor den Füßen bestaunen kann. Aufmerksamkeit für das Augenblickliche, Lust an Alltäglichkeit - das verspricht etwas oft Vermisstes: Boden unter den Füßen. »Das Leben kam zu sich.«

Irgendwann in der Mitte des Buches sitzt Reymont neben Ines im Cabriolet, später liegen sie am Strand und dann in einer Hütte. Wie ging das zu? Was wird daraus? Wer weiß. »Nur jetzt nicht die stille Stunde plündern ...«

Christine Pitzke: Im Hotel der kleinen Bilder. Roman. Jung und Jung. 160 S., geb., 17,90 €.

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