Ärztemangel - oder Ärzteschwemme
Was denn nun? Aufklärung über die Mythen der Gesundheitsdebatte - Teil 9 der nd-Serie
»In ein paar Jahren wird das Gesundheitswesen unbezahlbar sein«, droht uns die veröffentlichte Meinung seit Jahren. Und warum? Es liegt angeblich am demografischen Wandel, am medizinisch-technischen Fortschritt, der Freibiermentalität der Patienten. Mit solchen »Argumenten« werden Privatisierungen im Gesundheitswesen als unumgänglich vorangetrieben; ärztliche Leistungen aus dem Katalog der gesetzlichen Krankenkassen gestrichen, Zuzahlungspflichten begründet. Derweil verdient nicht nur die Pharmaindustrie Unsummen. Doch wer kritisiert hier was und warum? Nadja Rakowitz wirft einen kritischen Blick auf das real existierende Gesundheitssystem - und zeigt, dass Alternativen sogar innerhalb kapitalistischer Verhältnisse möglich sind. Klarheit statt Mythen: hier täglich in einer nd-Reihe.
Ärztemangel und Ärzteschwemme
Diagnose:
Die Zahl der ÄrztInnen nimmt von Jahr zu Jahr zu. Gleichzeitig wird vielerorts über einen Mangel an ambulanter Versorgung geklagt.
Oft vorgeschlagene Therapie:
Dem «Ärztemangel» wird oft nur mit neuen Möglichkeiten für ÄrztInnen begegnet, mehr Geld zu verdienen. Die falschen, ökonomisierten Strukturen werden kaum angetastet.
Hintergrund und Faktenlage:
In Deutschland ist der ambulante Sektor, also die medizinische Versorgung außerhalb der Krankenhäuser, durch einige Besonderheiten gekennzeichnet: Er ist zum einen relativ strikt getrennt von den Krankenhäusern, das heißt, Krankenhäuser nehmen kaum an der ambulanten Versorgung teil. Zum anderen gibt es alle Facharztrichtungen, die man in den meisten Ländern Europas nur im Krankenhaus findet, auch im ambulanten Sektor. Es gibt also niedergelassene FrauenärztInnen, RadiologInnen, AugenärztInnen und so weiter. Diese «doppelte Facharztschiene» trägt zu Reibungsverlusten in der Versorgung und zu hohen Kosten bei – und ist nicht unbedingt notwendig.
Ende 2010 verzeichnete die Kassenärztliche Bundesvereinigung insgesamt 155.000 ambulant tätige ÄrztInnen und PsychotherapeutInnen (darunter allerdings viele über 60-Jährige, die bald in Rente gehen werden). Allein im Zeitraum zwischen 1990 und 2009 nahm die Anzahl der niedergelassenen ÄrztInnen um 47.000 ÄrztInnen oder 51,3 Prozent zu – bei stagnierender Bevölkerungszahl. Aber trotz steigender Ärztezahlen verteilen sich die ÄrztInnen ungleich auf Stadt und Land und auf reichere und ärmere Stadtteile. Außerdem gibt es (immer) mehr FachärztInnen als Allgemein- beziehungsweise HausärztInnen. Die ambulante medizinische und psychotherapeutische Versorgung wird in Deutschland in der Regel von niedergelassenen ÄrztInnen erbracht, die freiberufliche Unternehmer sind, ob in Einzel- oder Gemeinschaftspraxen. Erst mit den 2004 eingeführten Medizinischen Versorgungszentren (MVZ) können ÄrztInnen auch im ambulanten Sektor als Angestellte arbeiten. Dies ist deshalb wichtig, weil die Art der Bezahlung Anreize setzt. Solange jede einzelne Leistung der ÄrztInnen vergütet wurde (Einzelleistungsvergütung), stellte dies den Anreiz dar, die Leistungen auszuweiten – über das medizinisch Notwendige hinaus. Und genau das hat die Mehrheit der ÄrztInnen auch getan. Um dies einzudämmen, wurden in den 1990er Jahren Budgets und Pauschalen eingeführt.
Allein die GKV gab im Jahr 2011 33,1 Milliarden Euro für KassenärztInnen aus. Das bedeutet für die ÄrztInnen laut Kassenärztlicher Bundesvereinigung durchschnittlich 280.000 Euro Umsatz; zieht man davon die Betriebsausgaben ab, bleibt durchschnittlich ein Überschuss aus vertrags- und privatärztlicher Tätigkeit von knapp 140.000 Euro, die sich allerdings sehr unterschiedlich auf die verschiedenen Facharztrichtungen verteilen. Dazu kommen schätzungsweise 1,5 Milliarden Euro pro Jahr für Individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL) und gegebenenfalls noch Gelder für Anwendungsbeobachtungen (z. B. von der Pharmaindustrie). Das Jammern der ÄrztInnen über geringe Einkünfte bewegt sich also – gemessen am Durchschnittsverdienst der gesetzlich Versicherten – auf hohem Niveau.
Die Förderung des ökonomischen und kommerziellen Denkens in den Praxen in Zeiten neoliberaler Dominanz ist seitens der herrschenden Politik gewünscht. Geld wird immer mehr zu einem zentralen Bestandteil der Arzt-Patient-Beziehung – sei es durch kommerzielle Vermarktung «ärztlicher» Leistungen (wie IGeL oder durch den Verkauf von Diätetika etc.) oder durch die staatlicherseits den Niedergelassenen aufgezwungene, inzwischen wieder abgeschaffte Praxisgebühr. In mancher Hinsicht erfolgt eine Umkehrung der Arzt-Patient-Beziehung. Das Anliegen der PatientInnen als das zentrale Element dieses Verhältnisses wird dabei durch das ökonomische Eigeninteresse der ÄrztInnen überlagert. Dies hat unmittelbaren Einfluss auf die Behandlung; sei es, dass sich der oder die PatientIn unnötigen Untersuchungen unterziehen muss; oder sei es die Bevorzugung von PrivatpatientInnen bei der Terminvergabe, was eine Abkehr vom Primat der medizinischen Bedürftigkeit darstellt.
Die von Dr. Nadja Rakowitz verfasste Broschüre „Gesundheit ist eine Ware. Mythen und Probleme des kommerzialisierten Gesundheitswesens“ ist in der Reihe »luxemburg argumente« erschienen und kann bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung bestellt werden.
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