Das magere fünfte Bein
Gerhard Armanski über die Zukunft Ägyptens
Der unermüdliche Maulwurf der Geschichte wühlt sich nach oben, und das ausgerechnet in Ägypten, das seit pharaonischer Zeit als Hort der Stabilität angesehen wird. Die Bevölkerung des Landes gilt als heiter, duldsam und geduldig. Mit irgendwelchen Fanatismen hatte sie im Lauf ihrer Geschichte nichts am Hut. Eher ertrug sie schweigend die Last der Herrschaft.
In einer Erzählung von Yussuf Idris schleppt ein armer Kerl seit Urzeiten den Stuhl der Macht, ohne zu wissen, wie lange und wofür. Nach einem heftigen Wortwechsel mit dem ungeduldigen und wütenden Beobachter »begann sich der Stuhl zu bewegen, in seinem bedächtigen, Ehrfurcht gebietenden Gang (…) Der Mann wurde nun wieder das magere fünfte Bein, das allein den Stuhl zu bewegen vermochte«.
Abgesehen von einer Revolution am Ende des Alten Reiches ist das Land von tief greifenden sozialen und politischen Erschütterungen verschont geblieben. Die makedonischen Ptolemäer bemächtigten sich der Herrschaft, die Römer, Araber, Mameluken, Osmanen und Engländer. An der Grundstruktur des sozialen Lebens änderte sich nichts: Der Fellache bestellte kemet, das fruchtbare schwarze Land, und nahm achselzuckend die offenbar unvermeidlichen wechselnden Obrigkeiten hin. In all dem schien es weder Entwicklung noch Ausweg zu geben.
Erst die französische und dann britische Intervention im Verein mit dem staatsautoritären Versuch unter Muhammad Ali, das Land mit drakonischen Mitteln zu modernisieren, brachten Bewegung in die historische Szene. Anders als sonst in Nordafrika entstanden Ansätze einer nationalen Bourgeoisie. Auf diesem Boden gediehen unterschiedliche politische Projekte – Königtum, die Moslembrüder, der arabische Sozialismus von Nasser und der neoliberale Staatskapitalismus unter Sadat und Mubarak. Hegemonial konnte keiner von ihnen werden, und genau das kennzeichnet die gegenwärtige Situation, die auf ein Patt hinausläuft. Anders als in vielen anderen arabischen Ländern herrscht ein eher moderater Islam vor und gibt es mit den Kopten eine erhebliche christliche Minderheit im Land.
In jener sozialen und politischen Gemengelage sind Kräfte herangewachsen, vor allem aus der jungen Mittelschicht, die, infiziert vom »Arabischen Frühling«, die Steine ins Rollen brachten. Sie streben eine säkulare, demokratische Gesellschaft an. Aber »da hinten im Lande, da leben sie noch«, sang einst Franz Josef Degenhardt. Es existiert eine konservative Grundsuppe auf dem Land, von und auf der die Mehrheit der Bevölkerung lebt. In ihr tummeln sich seit Jahrzehnten offen oder im Untergrund die islamistischen Moslembrüder, die mit rückwärts gewandten Konzepten eines Gottesstaates eine vermeintliche Antwort auf die schier chronische Modernisierungskrise des Landes zu geben beanspruchen. Die staatskapitalistische Bourgeoisie, zum guten Teil mit hohen Militärs identisch, war und ist jedoch nicht gesonnen, die Felle wegschwimmen zu lassen und hat schwerhändig immer wieder die islamistischen Kräfte nieder gehalten.
Eine mögliche Antwort auf die Frage, wie es weiter gehen soll, mag der Verweis auf den türkischen Kemalismus sein. Auch der trat als Grenzträger bürgerlicher Herrschaft auf, bis er in den letzten Jahrzehnten von einer sich mausernden Zivilgesellschaft auf die Plätze geschickt wurde. Auch in Ägypten ist durchaus denkbar, dass die Militärs als Sachwalter eigener Interessen und Statthalter eines zukünftigen demokratischen politischen Systems jenseits ihrer die Zustände einzufrieren und den Muslimbrüdern Paroli zu bieten trachten.
Diese Rechnung ist jedoch insofern ohne den Wirt gemacht, als die Dynamik der protodemokratischen Protestbewegung schwer einzuschätzen ist. Es ist alles andere als klar, welche politischen Ziele sich bei ihr herauskristallisieren. Auch ist nicht bekannt, welche Rolle die Arbeiterschaft in all dem spielt oder spielen könnte. Sowohl die unsichere wirtschaftliche Situation wie die wenn auch schütteren Folgen des »Arabischen Frühlings« in anderen Ländern werden weiterhin Öl ins Feuer gießen. Wohin wird die revolutionäre Lokomotive dampfen?
Eines ist jedoch unabweisbar: Die Friedhofsruhe autoritärer Herrschaft im Nilland ist nachhaltig erschüttert. Ägypten, das im bürgerlichen Sinn fortgeschrittenste arabische Land, wird vielleicht Wege weisen, wohin die Reise gehen soll. Das gegenwärtige Militärregime kann und will nicht mehr, als der politischen Entwicklung geordnete politische Bahnen zu verschaffen. Die derzeitige soziale und politische Krise ist dadurch nicht erledigt. Zur Hoffnung gibt vor allem Anlass, dass sich die Ägypter zum ersten Mal in der neueren Geschichte nicht abspeisen lassen wollen, sondern ihre Vorstellungen einer wünschenswerten Gesellschaft und Politik offensiv vortragen, wie unausgereift sie sein mögen.
Wir werden sehen, wie die beharrungsstarke Landbevölkerung agiert. Vielleicht wirft der Träger den Stuhl der Autokratie endlich ab. Es ist die wirkliche soziale Bewegung jenseits aller Ideologien, welche die Dinge vorantreibt. Politisches Lernen wird in ihr allemal stattfinden. Die Alternative wäre ein erstickender Verschnitt des Mubarak-Regimes.
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