Die Vorratsdaten-Makulatur
Was der Europäische Gerichtshof am Dienstag verhandelt, spielt eigentlich keine Rolle mehr
Wie sensibel heutzutage Daten und der Zugriff auf diese sind, musste Österreichs Bundespräsident Heinz Fischer erst vor wenigen Tagen erfahren. Als er sich mitten in der Nacht auf einer schäbigen Bank im Flughafen Schwechat wiederfand, um Boliviens Staatspräsident das Händchen zu halten. Während dessen Maschine durchsucht wurde, als sei er ein Drogenboss. Was hätte Wien eigentlich getan, wenn Edward Snowden in dem Flugzeug gewesen wäre?
Die Entscheidung wäre nicht leicht gewesen. Österreich ist gewissermaßen Partei in dem Konflikt, denn die Bürgerdaten hat sich das Land auf die Fahne geschrieben: Wien hatte die 2006 verordnete EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung nicht umgesetzt, sondern sich verklagen lassen und erst 2012 ein widerwilliges Gesetz erlassen, gegen das sogleich eine Landesregierung und 11 000 Bürger vorgingen. Die Wiener Verfassungsrichter, die die Causa nun zum EuGH zurückverwiesen, handelten im Sinne der Mehrheit. Wie hätte es ausgesehen, den Mann auszuliefern, der einen Mega-Überwachungsskandal bekannt gemacht hat? Man wird tief durchgeatmet haben, als dieses Dilemma sich doch nicht stellte.
Mehr zum Thema Vorratsdatenspeicherung (#VDS)
Die Bundestagsabgeordnete der Linken, Halina Wawzyniak, schreibt in ihrem Blog über die Vorratsdatenspeicherung und den "Etikettenschwindel" der CDU beim Thema #VDS. Der Chaos Computer Club fordert, dass der #VDS die europäische Rechtsgrundlage entzogen werden soll. Das Thema #VDS auf dem Blog »Digitale Linke«. Auch auf Facebook und Twitter wird das Thema #VDS diskutiert. Webseite des Arbeitskreises Vorratsdatenspeicherung
EuGH Verfahren zur Vorratsdatenspeicherung (#VDS)
Live-Berichterstattung und Pressematerialien zum EuGH Verfahren zur Vorratsdatenspeicherung
"Vorratsdatenspeicherung vorm Europäischen Gerichtshof: Anlasslose Massenüberwachung oder Grundrechte?" auf www.netzpolitik.org
Wer die Verhandlung vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) am 9. Juli nachverfolgen möchte, findet auf www.standard.at einen Liveticker. Auf Twitter kann man den Prozess mit dem Hashtag #VDSEuGH nachverfolgen.
Überblick über die Vorratsdaten-Politik der EU-Mitgliedsländer.
»Hier wurden ganz klar Grenzen überschritten«
Constanze Kurz vom Chaos-Computer-Club über die Schnüffelei des US-Geheimdienstes und die Vorratsdatenspeicherung in Deutschland. Mehr
nd-Dossier: Snowdens Flucht
Junger US-Geheimdienstler mit Gewissen enthüllt gigantische Datenschnüffelei. Edward Snowden heißt der Mann, der das Imperium herausforderte und sich zur Zeit auf der Flucht vor der US-Justiz befindet. Zum Dossier
Geheimdienst-Skandal: Gipfel mit Putin bedroht
Die USA sollen laut russischen Quellen mit dem Platzen eines Gipfeltreffens mit Präsident Wladimir Putin in Moskau drohen, wenn sich der auf der Flucht befindliche ehemalige US-Geheimdienstler Edward Snowden zum geplanten Termin Anfang September noch in Russland befinde. Das verbreitete die Moskauer Tageszeitung »Kommersant« unter Hinweis auf Informanten im US-State Department. Mehr
SPD hat Zweifel an Unkenntnis der Regierung
Die SPD zweifelt die angebliche Unwissenheit der Bundesregierung über die US-Geheimdienstaktivitäten beim Ausspähen von Internet- und Telefondaten immer stärker an. Die Zusammenarbeit zwischen deutschen und US-Geheimdiensten sei scheinbar weitaus enger gewesen. Mehr
So, wie die unglaubliche Episode nun ausgegangen ist, kommt Österreich noch gut aus der Episode. Seine und die irischen Verfassungsrichter haben die anrüchige Verordnung groß aufs Tapet gehoben – was sich die deutschen Verfassungsrichter, die das deutsche Ausführungsgesetz ebenfalls kassiert haben, offenbar nicht trauten. Und als der EuGH seinerseits kritische Fragen an die EU-Bürokratie stellte, hätte Wien ausgesehen wie die Avantgarde des Datenschutzes. Doch dann begannen die Enthüllungen von Snowden, die jedweden Ausgang des Dauerstreits um die Vorratsdatenspeicherung mehr oder minder zu Makulatur zu machen scheinen.
Der liberale Kommentator Heribert Prantl hat angesichts dieses bemerkenswerten Aufeinandertreffens von Fortschritt und Bedrohung dazu aufgerufen, die Dinge in die eigene Hand zu nehmen. Die schönen Bestimmungen der EU-Grundrechtecharta – die »Achtung der Kommunikation«, der »Schutz« personenbezogener Daten – könnten nur von einer Bürger-Bewegung mit Leben erfüllt werden. Tatsächlich, und das sagt Prantl weniger deutlich, müsste die Konsequenz der Enthüllungen darin bestehen, sehr grundsätzlich über Nachrichtendienste zu debattieren. Diese bestreiten gar nicht groß, möglicherweise von illegal erworbenen Daten profitiert zu haben.
Wer sich 30 Jahre zurückerinnert, kann aber ermessen, wie hoch die Latte für eine solche Bewegung liegt. Zwar wurde damals im Zusammenhang mit den Volkszählungs-Boykottkampagnen das »Recht auf informationelle Selbstbestimmung« durchgesetzt, doch waren Monate dauernde Großkampagnen vonnöten. Seit Prantls Aufruf sind nun zwei Wochen vergangen. Und zweifellos haben die Enthüllungen Wirkung gezeigt, das »Vertrauen« der Deutschen in die USA bewegt sich wieder auf dem Niveau der Zeit, in der Präsident George Bush regierte. Mit einem zweiten Piraten-Boom scheint es aber nichts zu werden. Und dass auch nur irgendein Hauch von Missstimmung an Bundeskanzlerin Angela Merkel hängen bleiben könnte, glauben wohl nicht einmal die Berufsoptimisten der Opposition.
Der schlechtestmögliche Ausgang der Affäre wäre ein verbreitetes Resignieren in der Sache, billig kompensiert in einer gewissen anti-amerikanischen Überheblichkeit. Dazu gibt es keinen Grund, denn der bizarre Mechanismus der Aufgabe von individueller Freiheit, der dort seit »9-11« wirkt, hat auch in Deutschland schon oft gegriffen: Zum Beispiel beim »Vermummungsverbot« – die für Durchschnittsamerikaner unvorstellbare Rechtslage, nach der das Mitführen von Regenschirmen bei Kundgebungen als »passive Bewaffnung« verfolgt werden kann. Hierzulande steht, wer an das Recht auf anonymes Demonstrieren erinnert, zuverlässig im Ruch des potenziellen Steineschmeißers. Und dabei ging es bei der Durchsetzung des Vermummungsverbotes Ende der 80er Jahre nicht um 3000 Tote in einem symbolträchtigen Hochhaus, sondern nur um ein paar vermummte Demonstranten in einer heruntergekommenen Hafengegend, nach der doch eigentlich kein Hahn krähte.
Es sieht nur leider so aus, als träte eben diese Variante – das verbreitete Resignieren – nun ein.
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