Ägypten nach Mursi: Was wollen die Linken?
Die Menschen erwarten konkrete Lösungen für konkrete Probleme. Essen auf dem Tisch ist wichtiger als Kulturkampf
In Ägypten steht die Arbeitslosigkeit derzeit bei 12,7 Prozent (offizielle Zahl), ein dramatischer Anstieg seit 2010. Seit dem Jahr 2011 mussten 4.500 Fabriken geschlossen werden, das ägyptische Pfund hat 22 Prozent an Wert verloren. Ausländische Währungsreserven schrumpften von 36 auf 16 Milliarden US-Dollar.
Für manche ist die Lösung einfach: »Was die arabische Welt vor allem braucht, ist nicht Demokratie, sondern Kapitalismus«, kommentierte »The Telegraph« die Ereignisse am Nil. Vergessen wird offenbar, dass bereits mit Präsident Sadats Einführung der Infitah, der Marktöffnungspolitik der 1970er Jahre, der Kapitalismus Einzug in Ägypten hielt. Diese Entwicklung wurde in der Ära Mubarak weiter beschleunigt mit der Privatisierung verschiedener Industrien, die mit steigenden Arbeitslosenzahlen und Armut einherging.
Die sich daraufhin formierende Streikbewegung war aktiv und gut organisiert. Sie unterstützte die Anti-Mubarak-Proteste Anfang 2011 und die Massenstreiks waren auch für das Militär ein überzeugender Grund, Präsident Mubarak des Amtes zu entheben. Die Wirtschafts- und andere Eliten wussten, dass sie in Gefahr waren.
An dem Argument, dass Demokratie in Ägypten nicht gebraucht wird, ist jedoch auch wahres, zumindest wenn Demokratie über transparente Wahlen, starke Parlamente und legale, institutionelle Möglichkeiten zur Absetzung der Regierung definiert wird. Demokratie existierte in Ägypten in dieser Form bisher nicht. Die Wahlen des Jahres 2011/2012 wurden unter der Herrschaft der Militärführung organisiert. Sie zeigte damit, dass sie in der Lage ist, einen Urnengang nach international anerkannten Regeln zu organisieren und durchzuführen. Aber welchen Nutzen hätte eine Wahlbeteiligung für die Muslimbruderschaft? Und auch falls es ihnen möglich wäre, sich ungehindert zu beteiligen, würden andere politische Kräfte und das Militär einen weiteren Sieg oder eine starke Opposition der Bruderschaft akzeptieren?
Eine Sache ist gewiss: Derzeit haben die alten Vorurteile, Wahlen seien oberflächliches Werkzeug eines verwestlichten politischen Systems, innerhalb der islamistischen Bewegungen der gesamten Region wieder Hochkonjunktur.
Welchen Sinn hätten baldige Neuwahlen außerdem, wenn keine der politischen Kräfte ein realistisches und strategisches Konzept für den Weg aus der Krise hat? Es ist einfach, nach sozialer Gerechtigkeit zu rufen, wenn man keine konkreten Informationen und Kalkulationen zu ihrer Umsetzung vorlegen muss.
Für die politische Linke, aber auch für jede andere Kraft, die über Alternativen zum Kapitalismus nachdenkt, sind diese Fragen so wichtig wie für die Muslimbruderschaft. Wie würde eine Militärführung, die weite Teile der ägyptischen Wirtschaft und des Staatshaushalts kontrolliert, darauf reagieren? Die Antwort ist offensichtlich und die Debatte darüber, ob in Ägypten nun ein Militärputsch stattgefunden hat oder nicht, ist sinnlos. Es geht nun vielmehr darum, einen Weg zu finden, soziale Gerechtigkeit einzuführen in einer Weise, mit der die Militärführung leben kann.
Ein revolutionärer Weg wäre hingegen, den Moment als solchen zu greifen und soziale Gerechtigkeit jetzt umzusetzen, wie es manche linke Gruppen bereits forderten. Dafür müsste die Volksbewegung ihre Forderungen jedoch präzisieren, Druck gegen die Allianz von rechten PolitikerInnen mit dem Militär ausüben und sich selbst als unabhängigen Akteur im politischen Prozess organisieren.
Wie sieht nun die Linke in Ägypten die Ereignisse? Welche Lösung hat sie vorgeschlagen? Wie sieht sie die Rolle der Armee? Hat sie ihren eigenen »Fahrplan«, der sich von jenem der Armee unterscheidet?
Die Nationale Rettungsfront (NSF) ist eine Koalition bestehend aus 20 Parteien von politisch links bis rechts. Sie wurde nach der Verfassungserklärung Präsident Mursis vom letzten November gebildet. Ihre Schlüsselfiguren sind Mohammed Baradei, Hamdeen Sabbahi und Amr Moussa. Die liberal dominierte NSF ist die stärkste säkulare Opposition zu den Muslimbrüdern und zeitweise scheint dies auch die einzige Gemeinsamkeit des Bündnisses zu sein. Die NSF ist der Tamarod-Kampagne Anfang Mai beigetreten.
Die Front nimmt eine defätistische Haltung gegenüber dem Eingreifen der Armee ein. Sie hat deren »Fahrplan« nicht kritisiert und übt auch keinen Druck auf die Armee aus. Dies könnte die NSF in eine sehr schwache Position in künftigen Verhandlungen, auch mit dem Militär bringen. Aber für das Militär ist dies der politische Deckmantel für diese erneute Übergangsphase.
Die Partei Sozialistische Allianz gilt als eine der linken Parteien, die den Weg für die Revolution vom 25. Januar 2011 ebneten. Ihre Mitglieder waren damals noch in verschiedenen Parteien und Bewegungen aktiv und entschieden sich dazu, diese linken Strömungen zu vereinigen. Die Allianz ist der Tamarod-Kampagne Ende Mai beigetreten und am 22. Juni erklärte sie ihre Position für die Zeit nach der Absetzung Präsident Mursis. Sie forderte die Übertragung der Autorität an den Präsidenten des Verfassungsgerichts für maximal sechs Monate und die Bildung einer technokratischen Übergangsregierung, geführt von einem Politiker/einer Politikerin. Die Übergangsregierung sollte eine Versammlung zur Formulierung einer neuen Verfassung einberufen sowie Parlaments- und Präsidentschaftswahlen vorbereiten. Kontrolliert werden sollte dies mittels eines temporären Rats aller Parteien. Die Allianz ruft zur basisorientierten Organisation politischer Teilhabe und Management der Übergangsphase durch Volkskomitees auf. Überhaupt formulierte die Allianz ihre starke Ablehnung eines militärischen Eingreifens zur Beendigung von Mursis Präsidentschaft und gegen die Wiederkehr der Armee zur Kontrolle der Regierungsangelegenheiten und Einmischung in das politische Leben.
Die Revolutionären SozialistInnen, eine kleinere, aber sehr aktive Gruppe, hatten drei Forderungen vor dem 30. Juni: 1. Sofortige Einleitung eines Prozesses zur Erreichung sozialer Gerechtigkeit zum Nutzen der Millionen von Armen und GeringverdienerInnen, die mehr als alle anderen unter dem Scheitern Mursis und zuvor der Armeeführung litten. 2. Die Wahl einer repräsentativen Versammlung zur Entwicklung einer zivilen Verfassung. 3. Formulierung eines Gesetzesentwurfs für ein Justizsystem, das die Muslimbrüder, die Militärführung und die Angehörigen des Mubarak-Regimes für ihre Verbrechen zur Rechenschaft ziehen sollte.
Sameh Naguib, eine Revolutionärer Sozialist aus Ägypten, fordert eine einigende, revolutionäre politische Alternative zur Entlarvung der NSF, da diese seiner Meinung nach zugunsten der Machterlangung die Ziele der ägyptischen Revolution und »das Blut ihrer Märtyrer« verrät. Er fügt hinzu, dass dieses revolutionäre Programm und Projekt die Massen zum Nachteil der islamistischen und liberalen Eliten überzeugen werde. So sollten die Institutionen des alten Regimes erneuert werden, einschließlich der Militär- und
Sicherheitsorganisationen, die das Herz der Konterrevolution bildeten. Naguib meint, dass alle fortschrittlichen Kräfte die Folter und Repression gegen die Islamisten (Verhaftungen, Schließung von Fernsehstationen und Zeitungen nach dem 3. Juli) strikt ablehnen sollten. Diese Formen der Unterdrückung würden unter dem Vorwand der »Gewährleistung von Sicherheit« sehr bald auch gegen die Arbeiterbewegung und die Massenproteste eingesetzt.
Verschiedene Parteien von der Rechten und der Linken forderten eine neue Verfassung. Das Militär ignorierte dies jedoch und entschied sich für eine Anpassung der bestehenden. Alle Akteure befinden sich in einer schwachen Verhandlungsposition gegenüber der starken Stellung der Armee. Es bleibt, an die lange Liste von Menschenrechtsverletzungen der Armee während der Übergangsperiode 2011 und 2012 zu erinnern. Linke PolitikerInnen und AktivistInnen sind deshalb in Bezug auf die kommende Zeit nicht optimistisch gestimmt. Unabhängig davon, ob die ÄgypterInnen das nächste Mal zur Wahl gehen oder nicht, die Zukunft ihres Systems hängt von der Fähigkeit und dem Willen der PolitikerInnen zur Zusammenarbeit und der Einigung auf gemeinsame Ziele ab.
In diesem Zusammenhang bedeutet die Absetzung Mursis weder das Ende des politischen Islams noch das der Muslimbrüder in Ägypten. Die Bewegung wird eine gesellschaftliche, politische und kulturelle Kraft bleiben. Es wurde jedoch deutlich, dass ein autoritärer Regierungsstil strategisch nicht funktioniert, ganz egal, wer regiert. Um die Forderungen des Arabischen Frühlings nach Brot, Freiheit und Würde angemessen zu erfüllen, muss die ägyptische Gesellschaft zunächst einen Weg finden, um soziale Gerechtigkeit für alle zu gewährleisten und muss akzeptieren, dass keine politische Kraft in der Lage sein wird, die Probleme in nächster Zeit zu lösen.
Für die ÄgypterInnen ist jedoch eines sicher: Obwohl die Mehrheit der Bevölkerung als traditionell gesehen wird und religiöse Zugehörigkeit und Werte für die meisten sehr wichtig sind – der simple Slogan »Islam ist die Lösung« funktioniert nicht mehr. Die Menschen erwarten konkrete Lösungen für konkrete Probleme. Essen auf dem Tisch ist wichtiger als Kulturkampf. Die Muslimbruderschaft hat bereits damit begonnen, über vergangene Fehler zu diskutieren und wird sich dementsprechend ausrichten, auch wenn nun zunächst die Verteidigung ihrer politischen Führung und ihrer Position ansteht. Die Bruderschaft ist eine heterogene Bewegung, die sicherlich eine Weile brauchen wird, um sich neu zu positionieren. Es ist derzeit noch unklar, ob sie ihre Schwerpunkte nicht eher von der parlamentarischen Teilnahme weg verlegen und sich auf das konzentrieren, was sie am besten können: Menschen in Notlagen konkret zu helfen. So können sie sich ihre Basis sichern und die Zeit zur besseren Vorbereitung für die politische Bühne zu nutzen.
Die Bildung von starken, vertrauenswürdigen Institutionen wird aber nur durch gemeinsame Bemühungen aller wichtigen politischen Kräfte möglich sein. Jahrzehntelange NDP-Herrschaft (Nationaldemokratische Partei, die jetzt verbotene Mubarak-Partei) machten große Teile des Regierungsapparats für andere Parteien unkontrollierbar, besonders für jene mit Vorstellungen, die sich von denen des alten Regimes unterscheiden.
In der ersten Hälfte des Jahres 2011, als die Hoffnung in Ägypten noch groß war, beantworteten die Menschen die Frage danach, was passieren würde, falls sich eine Regierung nicht bewähren würde, so: »Wir würden wieder auf die Straße gehen und sie vertreiben.« Wer diese Antwort damals als naiv empfand, wurde am 30. Juni eines Besseren belehrt. Und wenn es nicht passt, werden sie es wieder tun.
Peter Schäfer leitet das im Aufbau befindliche Regionalbüro Nordafrika der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Mai Choucri arbeitet als Programmmanagerin im Regionalbüro der Stiftung in Tunis. Ihr hier leicht gekürzt veröffentlichter Text erschient zuerst als Papier der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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