Goliath bricht sein Wort
Mit Wut im Bauch empfängt der ambitionierte Viertligist TSG Neustrelitz im DFB-Pokal den SC Freiburg
Hauke Runge muss selbst ein wenig schmunzeln. Dabei hat die unendliche Pokalgeschichte von David gegen Goliath, die der Präsident der TSG Neustrelitz erzählt, einen traurigen Hintergrund. Lange vor dem heutigen Spiel in der ersten Runde des DFB-Pokals gegen den SC Freiburg wurde zwischen beiden Vereinen der Austausch von Bildmaterial vereinbart. Also machte sich die bestens ausgerüstete Videoabteilung der Freiburger mehrmals auf den Weg in die Residenzstadt, um die Qualitäten der Neustrelitzer Fußballer festzuhalten. Den Goliath aus dem Breisgau müssen die Aufnahmen derart beeindruckt haben, dass er sein einst gegebenes Wort brach.
»Weil sie uns zu stark einschätzen«, verrät Runge schmunzelnd die Begrünung des Bundesligisten, warum der sich weigerte, das angeforderte Videomaterial der eigenen Mannschaft nach Neustrelitz zu liefern. Natürlich ist Runge verärgert über die Missachtung des Fairplay. Doch er weiß auch, dass selbst bei genauester Analyse des Gegners, der in dieser Saison sogar in der Europa League spielt, seine TSG der kleine David geblieben wäre. Wie 2007 und 2008, als Neustrelitz in der ersten Runde des DFB-Pokals dem Karlsruher SC und 1860 München jeweils mit 0:2 unterlegen war.
Die Hoffnung gibt Runge deshalb noch lange nicht auf, vertraut aber im Gegensatz zur biblischen Geschichte nicht auf die Hilfe des Fußballgottes. Thomas Brdaric soll es richten. Der ehemalige deutsche Nationalstürmer ist seit dieser Saison Trainer in Neustrelitz. »Das ist ein Zeichen von Schwäche«, missfällt auch dem 38-Jährigen die sehr unkollegiale Art des Erstligisten. Brdaric aber zieht daraus für sich und seine Mannschaft Positives, nimmt es als Motivation und schickt eine Elf mit Wut im Bauch auf den Platz: »Meine Jungs wissen jetzt definitiv, um was es geht.« Seine Jungs - das sind 21 hauptsächlich junge »Vollzeitfußballer«, wie Brdaric sagt. Profis in der Regionalliga Nordost, wenn auch für Viertligaverhältnisse unterdurchschnittlich bezahlt. In der fünfwöchigen Saisonvorbereitung gab es nur drei freie Tage, sonst wurde zwei oder dreimal am Tag trainiert.
Aufgrund dieser professionellen Bedingungen hat sich Brdaric für Neustrelitz entschieden - und bewusst auch für die »Provinz«. Denn ihm ist es als Neuling im Trainergeschäft wichtig, sich »in Ruhe und mit ein bisschen weniger Druck komplett auf den Fußball konzentrieren zu können«.
Die Zeit will ihm der Verein geben. Brdaric soll »die kontinuierliche Entwicklung des Klubs fortführen«, wünscht sich Präsident Runge. Nach dem Aufstieg 2012 in die Regionalliga will sich Neustrelitz in dieser Spielklasse etablieren. Schon jetzt ist die TSG mit ihren knapp 500 Mitgliedern hinter dem FC Hansa Rostock der zweitstärkste Verein in Mecklenburg-Vorpommern. Auf diesem Weg sind Spiele wie heute gegen Freiburg durchaus hilfreich. Die zusätzlichen Einnahmen entsprechen etwa einem Viertel des Saisonetats, der im mittleren sechsstelligen Bereich liegt.
Hauke Runge hat aber noch weitergehende Visionen. »Aue ist auch klein«, sagt er und sieht in der 20 000-Einwohner-Stadt Neustrelitz durchaus das Potenzial für höherklassigen Fußball. An der nötigen Infrastruktur wird jetzt schon gearbeitet. Gerade wurden im Parkstadion über 600 Sitzplätze fertiggestellt, so dass zum Pokalspiel gegen Freiburg Platz für mehr als 7000 Zuschauer ist. Und im Herbst beginnt der Bau einer Flutlichtanlage, an dessen Kosten von 500 000 Euro sich das Land und die Kommune beteiligen.
Für den sportlichen Teil des Aufschwungs soll wiederum Thomas Brdaric sorgen - mit seiner Erfahrung und seinem Konzept. Als Spieler sammelte der ehemalige Stürmer mit 54 Erstligatoren und sieben Länderspieleinsätzen Erfahrungen auf höchstem Niveau. Davon profitieren die Neustrelitzer Angreifer besonders. »Klar zeige ich unsere Stürmern, wie man sich bewegen muss, um in möglichst viele Torabschlusssituationen zu kommen«, sagt Brdaric. Also aufgepasst SC Freiburg! Vor Abiola Folarin, Salvatore Rogoli oder Velimir Jovanovic. »Wir machen natürlich ein sehr komplexes Training«, sagt Brdaric und will Fortschritte im technischen, taktischen, läuferischen, koordinativen und kognitiven Bereich erzielen. Also überall.
Brdaric weiß aber auch, dass er sich als Trainer seine »Sporen erst verdienen muss«. Da es nach seinem Karriereende 2008 beim DFB-Trainerlehrgang keinen freien Platz gab, machte er den Umweg über Osteuropa. 2011 wurde er Sportdirektor bei Dinamo Minsk und erwarb gleichzeitig in der Ukraine seine UEFA-Lizenz als Trainer. Die TSG ist seine erste Station im Männerbereich. Die letzte soll es nicht sein. Um die Chance in einer höheren Liga zu erhalten, »muss und will ich hier in Neustrelitz aber erfolgreich sein«. Das hört Hauke Runge bestimmt gern.
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