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Chemiewaffen im Visier

Syrien soll das größte Arsenal in Nahost besitzen / Bisher 80 Prozent der weltweiten Bestände vernichtet

  • Olaf Standke
  • Lesedauer: 4 Min.
Waren es Regierungstruppen oder Aufständische? Obwohl die UN-Inspekteure erst am Montag ihre Arbeit aufgenommen haben, zweifelt der Westen kaum noch daran, dass das syrische Regime Giftgas eingesetzt hat - 20 Jahre nach Unterzeichnung der Konvention über das Verbot chemischer Waffen. Es wäre nicht der erste Einsatz dieser Massenvernichtungsmittel in den vergangenen Jahrzehnten.

Syriens Staatschef Baschar al-Assad hat jetzt in einem Gespräch mit der russischen Zeitung »Iswestija« den Vorwurf, seine Armee habe chemische Waffen eingesetzt, noch einmal scharf zurückgewiesen. Entsprechende Äußerungen westlicher Politiker seien »eine Beleidigung des gesunden Menschenverstandes«, sagte der Präsident. Dass im Lande chemische und biologische Kampfstoffe existieren, hat die Führung in Damaskus aber schon zugegeben. Experten stufen Syriens Arsenal als das größte im Nahen Osten und viertgrößte weltweit ein. Nach Schätzungen der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) geht es um über 1000 Tonnen Kampfstoffe, darunter Sarin, Senfgas und das Nervengas VX, hauptsächlich in Lagerstätten unweit der Stadt Homs und östlich von Damaskus.

Laut Pentagon-Angaben sollen etwa 250 moderne nordkoreanische Scud-Mittelstreckenraketen diese Kampfstoffe bis zu 300 Kilometer weit tragen können. Mit iranischer Hilfe wurden zudem etwa 100 alte sowjetische SS-21-Raketen modernisiert. Hinzu kommen Kampfflugzeuge verschiedener Typen als mögliche - und zielgenauere - Trägersysteme.

Seit Beginn des bewaffneten Konflikts in Syrien sind mehr als ein Dutzend konkrete Giftgas-Verdachtsfälle bekannt geworden, ohne dass es bisher wirklich belastbare Beweise gäbe. Die UN-Inspekteure haben gestern als erste Station ein Krankenhaus in Muadamijat al-Schams südwestlich von Damaskus besucht. Aufständische und Regierung werfen sich gegenseitig den Einsatz chemischer Kampfstoffe vor.

Glaubt man dem Institut für Strategische Studien in London, begann Damaskus in den 70er Jahre mit den Arbeiten an einem geheimen militärischen Forschungsprogramm - später nicht nur mit Unterstützung Moskaus, sondern auch aus Frankreich, Iran und der alten Bundesrepublik. Während des Jom-Kippur-Krieg von 1973 lieferte Ägypten seinem damaligen Verbündeten mit chemischen Kampfstoffen gefüllte Artilleriegeschosse und Bomben, zur Abschreckung gegen einen befürchteten Einsatz israelischer Massenvernichtungswaffen.

Syrien ist bisher den Konventionen zum Verbot chemischer und biologischer Waffen nicht beigetreten. Aber es gehört dem Genfer Protokoll von 1925 an, das nach den schrecklichen Erfahrungen des Ersten Weltkriegs mit 100 000 Gas-Toten die Anwendung chemischer und bakteriologischer Kriegsmittel untersagt. Die umfassendere C-Waffen-Konvention wurde vor 20 Jahren in Paris unterzeichnet und trat 1997 in Kraft.

Inzwischen haben 188 Staaten den Vertrag ratifiziert. Acht stehen nach wie vor außerhalb des Verbotsregimes, neben Syrien sind das Angola, Ägypten, Nordkorea, Südsudan und Somalia sowie Israel und Myanmar, die die Konvention zwar unterzeichnet, aber nicht ratifiziert haben. Israel will diesen Schritt erst tun, wenn alle Länder der Nahost-Region beigetreten sind; arabische Staaten verweigern sich mit Hinweis auf die mutmaßlichen israelischen Atomwaffen. Aber auch Staaten wie Äthiopien, China, Iran, Pakistan, Serbien, Taiwan oder Vietnam werden vom Washingtoner Stimson Center verdächtigt, insgeheim C-Waffen zu besitzen oder zu entwickeln. Die Konvention verbietet, chemische Waffen zu entwickeln, herzustellen, zu erwerben, zu lagern oder zurückzubehalten und weiterzugeben.

Das Abkommen erfasst drei Arten toxischer Chemikalien und ihrer Vorprodukte. Die Bestände und Produktionsanlagen, über die jeder Mitgliedstaat Meldung machen muss, sind innerhalb bestimmter Zeiträume zu vernichten - was sich allerdings als mühsamer Prozess erweist. Trotz mehrfacher Fristverlängerungen sind bisher erst 56 800 der erfassten 71 000 Tonnen Kampfstoffe vernichtet worden. So wird es nach OPCW-Schätzung wohl noch bis mindestens 2023 dauern, bevor die USA, die im Vietnam-Krieg massenhaft chemische Mittel wie das hochgiftige »Agent Orange« mit verheerenden Folgen für Menschen und Natur versprühten, ihre letzten Bestände liquidiert haben. Diese Vernichtung erfolgt unter internationaler Kontrolle.

Die OPCW-Kontrolleure müssen aber auch die zivile Chemieindustrie im Auge haben, denn diverse Stoffe lassen sich wegen ihres sogenannten Dual-Use-Charakters sowohl für friedliche als auch für militärische Zwecke einsetzen. So können Ausgangsstoffe für Dünger oder Pflanzenschutzmittel zur Produktion von Kampfstoffen missbraucht werden. Neue wissenschaftliche und technische Entwicklungen wie die Nanotechnologie oder die biologische Produktion hochgiftiger Chemikalien schaffen zudem Grauzonen jenseits der Verbotsdefinitionen.

Und es wird wird international um die von der Konvention für die »Herstellung der öffentlichen Ordnung« gestatteten Chemikalien gestritten. Zu ihnen gehört etwa Tränengas. Vor allem die USA und Russland aber wollen diese Gruppe weiter fassen, verfügten sie doch offensichtlich über Stoffe, die das zentrale Nervensystem angreifen und so Opfer handlungsunfähig machen - was jedoch schon Todesfälle verursacht hat und deshalb auf der jüngsten Überprüfungskonferenz der Konvention in Den Haag scharf kritisiert wurde.

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