Wie spät ist es im »Spät-Kapitalismus«?
Zwischenruf von Arno Klönne zur Debatte über Epochenbruch und die Zählebigkeit des »alten Schlawiners«
Die Welt stehe »vor dem Epochenbruch«, hat Anfang August der Linken-Politiker Manfred Sohn hier geschrieben und erläutert, warum die gegenwärtige Krise seiner Meinung nach keine »normale« ist und was das für die gesellschatfliche Linke heißt. Alban Werner hat darauf geantwortet - mit dem kritischen Hinweis, dass wir »noch nicht am Ende der kapitalistischen Fahnenstange« sind. Dem folgte ein Beitrag von Sabine Nuss und Ingo Stützle. Wir setzen die Diskussion an dieser Stelle fort.
Darf man persönliche Beobachtungen einbringen in theoriebelesene Debatten über den Verfall der gegenwärtig herrschenden Gesellschaftsformation - oder deren unerwartete Zählebigkeit? Und zu der Frage, wie linke Leute auf Irritationen in dieser Sache reagierten und sie heutzutage verarbeiten? Ich finde: Das sollte erlaubt sein, also probiere ich es.
Die westdeutsche Linke in den 1960er Jahren: Wer vom Kapitalismus sprach ohne ein »Spät-« vorwegzustellen, schien ideell nicht auf der Höhe der Zeit zu sein. Das Ende dieses Übels, so die links äußerst beliebte Einschätzung, stand in Aussicht. Nicht durch einen altsozialdemokratisch gedachten »Kladderadatsch«, sondern, und da gab es nun heftigste innerlinke Kontroversen: Durch jungsozialdemokratische »systemüberwindende Reformen«.
Oder, ganz anders, durch eine »Aktualität der Revolution«, wobei deren Verlaufsmuster gern in geographischer Ferne gesucht wurden, in China oder in Lateinamerika.
Und wieder anders: Durch den systemkonkurrierenden Druck »realsozialistischer« Staaten. Der werde, so eine Erwartung, den spätkapitalistischen Verhältnissen in westlichen Gesellschaften den
Garaus machen, staatsmonopolistisch organisiert seien diese ja bereits. Das müsse eben umgedreht werden.
Die letztgenannte Version vom Exitus des Kapitalismus war auch in der DDR beliebt, jedenfalls akademisch-parteilich. Ob sie in die Kategorie »Revolution« oder doch besser in die der »Reform« hineinpasste, war eine etwas knifflige Frage.
Im »Spätkapitalismus« glaubte sich sogar der deutsche Soziologentag 1968, und der Diskurs darüber, zwischen Jürgen Habermas und Ernest Mandel schwankend, füllte die Suhrkamp-Bände.
Was ist davon geblieben? Nicht wenige der damaligen politischen Protagonisten weisen aufschlussreiche spätere Laufbahnen auf - hin zu Chefsesseln in Medienkonzernen oder ins parteipolitische Establishment, gar bis ins Amt des Bundeskanzlers, inzwischen auch in das eines Landesvaters. Soll man sie als Verräter ansehen? Vielleicht ist eine unmoralische Deutung nützlicher: Die Exgenossen haben frühzeitig wahrgenommen, dass der Kapitalismus noch gar nicht senil war. Und dann verhielten sie sich als homines oeconomici, wie im Lehrbuch.
Selbstverständlich sind solche Wege nicht zu verallgemeinern, und viele damalige Linksreformer oder -Revolutionäre sind links geblieben, was erst einmal erfreulich ist. Aber auch da kommt man ins Grübeln. Wie kann man umgehen mit der Erfahrung, dass aus den »systemtranszendierenden Reformen« und ebenso den »revolutionären Aufbrüchen« erst einmal nichts wurde und auch die staatliche »Systemalternative« sich verflüchtigte?
Es gibt da verschiedene vorfindbare Verhaltensmuster; einige seien kurz skizziert: Man kann bei den anzuzielenden Reformen, da der Kapitalismus sich ja nun doch als recht vital darstelle, ganz bescheiden werden, die Transzendenz beiseite lassen. Dann wäre, nur als Beispiel, schon die
Verlagerung der Riesterrente in die gesetzliche Rentenversicherung ein Erfolgserlebnis. Diese Reaktionsweise hat den existenziellen Vorteil, dass sie mit den derzeitigen parteipolitisch-parlamentarischen Geschäftsbedingungen kompatibel ist. Allerdings bringt sie das Gefühl, richtig links zu sein, nur dann hervor, wenn die Parteien der Mitte sich solcher Korrekturideen enthalten, und das ist nicht immer gewährleistet.
Oder man hofft eben doch auf den Epochenbruch: Wenn er vor etlichen Jahren ausblieb, hat er eben Verspätung, aber lang wird das nicht mehr dauern, der Blick in die Ferne lässt ja schon Revolutionäres erkennen... Auch diese Perspektive hat ihre angenehme private Seite. Es bieten sich viele subkulturelle Gelegenheiten links, bei denen man über die Gründe für die Finalität des Kapitalismus etwas lesen oder hören, auch über diese streiten kann, was kommunikativen Zusammenhalt bringt.
Das Problem dabei: Die Teilnahme an diesem Diskurs hat ihre Grenzen, man muss sie sich im persönlichen Zeit- und Energiehaushalt leisten können. Auch gibt es linksinteressierte Menschen, die ganz profan fragen: Was sagt uns das für unsere politische Praxis?
Und schließlich bleibt noch eine dritte Möglichkeit: Man findet Trost und Zuversicht in dem Gedanken, der Spätkapitalismus wäre längst an sein Sterbedatum gekommen, wenn da nicht Revisionisten im Realsozialismus sich breit gemacht hätten, in dessen zentralen Organen; aber auch das werde den Großverlauf der Geschichte nicht aufhalten, der habe seine Gesetzlichkeit. Hinderlich für diese Perspektive: Die denn doch weitverbreitete Neigung, sich historische Schritte bei der Abschaffung des Kapitalismus auf ihre lebenspraktischen Folgen hin anzuschauen.
Ich gebe zu: Diese Beobachtungen können als bösartig erscheinen. Deshalb füge ich an: Es sind auch andere linke Reaktionen auf die ungewisse Lebensdauer des Kapitalismus denkbar - und auffindbar.
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