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»Jeder verdient, was er verdient«

Seit mehr als 60 Jahren setzen deutsche Politiker auf die soziale Marktwirtschaft - eine Begriffserklärung

  • Rudolf Walther
  • Lesedauer: 3 Min.
Im Wahlkampf beziehen sich sowohl Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) als auch SPD-Kandidat Peer Steinbrück auf die soziale Marktwirtschaft. Der Begriff scheint also noch immer aktuell zu sein, obwohl der soziale Kern aus dem Konzept schon lange herausdefiniert worden ist.

Krise und soziale Marktwirtschaft sind gleichursprünglich im zweifachen Sinne, dass das Konzept der sozialen Marktwirtschaft das Ergebnis einer Krise ist und sich die Propagandisten des Konzepts in Krisen und Wahlkampfzeiten gerne daran erinnern. Im Duell mit Peer Steinbrück bezog sich Angela Merkel gleich dreimal auf die »soziale Marktwirtschaft«. Peer Steinbrück erinnerte an die »eigentlichen Werte der sozialen Marktwirtschaft« und belegte damit nur, dass es sich dabei wirklich um den Kern einer kerndeutsch-großkoalitionären Neuauflage der »deutschen Ideologie« handelt.

Den Segen dazu spendete der katholische Bischof Reinhard Marx (Jahrgang 1953). Er schrieb ein Buch mit dem Titel »Das Kapital« und richtete darin einen Brief an den toten Karl Marx (1818-1883), in dem er beklagt, der Kapitalismus enthalte »Strukturen der Sünde, die Anreiz geben zum Schlechten«. Hier die Genealogie der neueren deutschen Ideologie von der sozialen Marktwirtschaft:

Sie verdankt ihre Entstehung beziehungsweise Erfindung der katastrophalen Krisensituation nach 1945. An die »laissez faire«-Ideologie konnte damals aus einsichtigen Gründen so wenig angeknüpft werden wie an die nationalsozialistisch-privatkapitalistische Kommando-, Zwangsarbeiter- und Annexionswirtschaft. Der urliberale Ökonom Wilhelm Röpke plädierte deshalb 1947 für eine Synthese jenseits von »wirtschaftlichem Liberalismus« und »Zentralverwaltungswirtschaft«. Darin stimmten ihm auch andere Wirtschaftswissenschaftler zu.

Wie jedoch die neue Synthese zwischen staatlich gelenkter und freier Wirtschaft zu konzipieren sei, blieb strittig. Die meisten sprachen zunächst von »Verkehrswirtschaft« oder von »Marktwirtschaft«. Der Freiburger Ökonom Walter Eucken entwickelte den für das neue Konzept zentralen, hochspekulativen Begriff des »Ordo«, worunter er nicht nur eine »konkrete, positive, gegebene Tatsache« verstand, sondern »eine Ordnung, die dem Wesen des Menschen und der Seele entspricht, ... in der Maß und Gleichgewicht« herrschen und die sich als »sinnvolle Zusammenführung des Mannigfaltigen zu einem Ganzen« begreifen ließ. Der Begriff »Ordo« verbreitete sich schnell, aber über die Strukturen, Institutionen, Maßnahmen und Kompetenzverteilungen im herzustellenden »Ordo/Ganzen« gingen die Ansichten auseinander.

In dieser Situation brachte der Ökonom Alfred Müller-Armack in einem Gutachten zu »einer neuen Marktgestaltung« im April 1947 den Begriff »soziale Marktwirtschaft« ins Gespräch. Müller-Armack wurde 1933 NSDAP-Mitglied und erklärte im gleichen Jahr in seinem Buch »Staatsidee und Wirtschaftsordnung im neuen Reich«, was ihm das neue Regime bedeutete. Nach 1945 trat er der CDU bei und sicherte so seinen Job als Professor ab. Für den über Nacht zum CDU-Müller-Armack mutierten Autor verpuppte sich die alte »Staatsidee« zur »sozialen Marktwirtschaft« und angesichts der prekären Versorgungslage im befreiten Deutschland zur »Übergangsregelung zur freien Marktwirtschaft« (31.7.1947).

Noch zwei Monate zuvor verwendete er den Begriff nicht explizit: »Wir bedürfen einer neuartigen Synthese von Sicherheit und Freiheit, die uns ... befähigt, mehr Sozialismus mit mehr Freiheit zu verbinden. Dies dürfte jedoch nur auf dem Boden einer sozial gesteuerten Marktwirtschaft möglich sein.« Noch 1959 beklagte sich Müller-Armack über die mangelnde »Beschäftigung mit den der sozialen Marktwirtschaft zugrundeliegenden theoretischen Gedankengängen«.

Dabei ist es geblieben. Trotzdem schaffte der Begriff den Durchbruch. Wie konnte sich ein Konzept durchsetzen und über 60 Jahre halten, das über kein theoretisches Fundament verfügt und - zumindest zunächst - über keine erfolgreiche Praxis? Antwort: Das vage Konzept hatte sofort politischen Erfolg.

Die CDU zog nämlich mit dem Slogan »soziale Marktwirtschaft« 1949 in den ersten Bundestagswahlkampf und wurde stärkste Partei. In den »Düsseldorfer Leitsätzen« wurde »soziale Marktwirtschaft« als Mitte zwischen »Planwirtschaft« und »freier Wirtschaft« definiert. Die Partei distanzierte sich darin ausdrücklich von der »sogenannten freien Wirtschaft liberalistischer Prägung« und forderte ein »System von Ordnungsmitteln«.

Volkmar Muthesius, einer der rührigsten Protagonisten der sozialen Marktwirtschaft, popularisierte die »neue« Lehre: »Die Gesellschaft beruht auf der Tatsache, dass jeder verdient, was er verdient. Das ist Gerechtigkeit.« Dass der soziale Kern damit aus dem »neuen« Konzept herausdefiniert wurde, fiel in der Zeit des »Wirtschaftswunders« so wenig auf wie bei der sozialdemokratischen Konstruktion der Agenda 2010, deren Kern Muthesius im Jahr 1948 auf den Punkt brachte.

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