Die Vergangenheit holt Trittin ein
Bei SPD und Grünen schwindet die Hoffnung auf eine eigene Mehrheit
Mit ungewohnt leiser Stimme gab Jürgen Trittin nach der Sitzung des Parteivorstands am Montag seine Erklärung zu einem Text des Göttinger Politikwissenschaftlers Franz Walter in der »tageszeitung« ab. Er habe sich in den 1980er Jahren dem falschen grünen Politikverständnis in Bezug auf den Umgang mit Pädophilen nicht hinreichend entgegengestellt. »Das sind auch meine Fehler, die ich bedaure«, sagte der Spitzenkandidat der Grünen.
Franz Walter, der von den Grünen beauftragt worden war, die Pädophilie-Vertrickungen in der Frühphase der Partei aufzuklären, hatte öffentlich gemacht, dass Trittin 1981 presserechtlich das Kommunalwahlprogramm der Alternativen Grünen Initiativen Liste (AGIL) in Göttingen verantwortet hatte, wonach Sex zwischen Kindern und Erwachsenen unter bestimmten Bedingungen straffrei werden sollte. Trittin bestätigte dies, konnte sich aber nach eigenen Worten nicht mehr an die Passage des Programms erinnern. Diese sei laut Trittin aus dem Grundsatzprogramm der Grünen von 1980 übernommen worden. 1989 habe ein Gremium diese Position dann korrigiert. »Zu spät«, räumte Trittin ein.
Der Zeitpunkt der Veröffentlichung des SPD-Mitglieds Walter ist für die Grünen denkbar schlecht. An diesem Sonntag findet die Bundestagswahl statt und die Grünen sind in den Umfragen abgerutscht. Die Debatten über die eigene Vergangenheit könnten die Grünen nun weiter schwächen. Auch das schlechte Ergebnis bei der Landtagswahl in Bayern (8,6 Prozent) ist ein Anzeichen dafür, dass für die Partei nach ihrem Höhenflug nun schwerere Zeiten anbrechen. Trittin und Ko-Spitzenkandidatin Katrin Göring-Eckardt erklärten, dass sie sich bei der Bayern-Wahl mehr erhofft hatten. Ihr Glaube an eine rot-grüne Mehrheit nach der Bundestagswahl schwindet angesichts des großen Rückstands in den Umfragen. Die SPD gilt nun nicht mehr als Partner, sondern als Konkurrent. Göring-Eckardt warnte ausdrücklich vor einer Großen Koalition.
Über die geplanten Steuererhöhungen der Grünen, die als eine Ursache für das Umfragetief gelten, wollten die beiden Spitzenkandidaten gestern kein Wort verlieren. In den letzten Tagen bis zur Bundestagswahl soll offenbar die Energiewende im Zentrum der Kampagne stehen. Sollten die Grünen bei der Bundestagswahl ihre Ziele verfehlen, würden sie sich voraussichtlich personell neu aufstellen. Trittin müsste dann wohl die Verantwortung für eine Niederlage übernehmen.
Dass die Chancen für Rot-Grün bei der Bundestagswahl schlecht stehen, liegt aber auch an dem Zustand der SPD. Diese fuhr bei der Landtagswahl in Bayern ebenfalls ein schwaches Ergebnis ein. Zwar konnten die Sozialdemokraten im Unterschied zu den Grünen einen kleinen Zuwachs verzeichnen, allerdings lagen sie am Ende nur bei mageren 20,6 Prozent. Die Bundes-SPD mühte sich gestern, dieses Ergebnis als Erfolg darzustellen. Eine »ganze Portion Zuversicht« verspürte Kanzlerkandidat Peer Steinbrück. Generalsekretärin Andrea Nahles verkündete, dass dies ein »gutes Ergebnis« sei.
In Bayern hat sich die SPD daran gewöhnt, hinter der CSU Zweiter zu werden. Im Bund droht nun ein ähnliches Szenario. In den Umfragen liegt die Union deutlich vorne. Doch die Konservativen werden auf Bundesebene im Unterschied zur CSU in Bayern einen Koalitionspartner benötigen. Wenn die FDP den Wiedereinzug in den Bundestag verpassen sollte, könnte die SPD als neuer Juniorpartner von Bundeskanzlerin Angela Merkel bereit stehen. Deswegen hat die SPD die Liberalen offenbar als ihren neuen Hauptgegner auserkoren. »Wäre die FDP nicht im Bundestag, steigen die Chancen deutlich für Peer Steinbrück, Kanzler zu werden«, behauptete SPD-Chef Sigmar Gabriel.
Berichte in den Medien, wonach sich die Partei schon auf eine Große Koalition einstellt und Steinbrück die Verhandlungen mit Merkel führen könnte, werden von der SPD-Führung zurückgewiesen. Gabriel sprach von »albernen Spekulationen«. Ausgeschlossen hat die SPD-Spitze ein Bündnis mit der Union bisher nicht, aber sie will im Wahlkampfendspurt in der Öffentlichkeit vor allem über Rot-Grün sprechen. Offenbar wird befürchtet, dass Spekulationen von SPD-Politikern über Schwarz-Rot die eigenen Wähler demobilisieren und einen innerparteilichen Streit über den Umgang mit der Union provozieren würden. Womöglich wird dieser Konflikt in der SPD erst nach der Wahl ausbrechen.
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