Rollator mit Goldspeiche
Krankenkassen fordern Nutzenvergleich im wachsenden Heil- und Hilfsmittelmarkt
Im März stürzt die Rentnerin Gisela S. aus Berlin auf einem glatten Gehweg und bricht sich den rechten Oberschenkelhals. Ihr wird ein Gamma-Nagel eingesetzt. Der hält lediglich einige Wochen. Dann bricht er, der 81-Jährigen müssen in einem schmerzhaften und komplizierten Eingriff die kaputten Teile entfernt werden. Sie bekommt ein künstliches Hüftgelenk. Bis heute kann sie nicht laufen und hat Angst, die Ersatzteile könnten wieder nicht halten.
Die Angst ist nicht unberechtigt. Egal, ob es sich um einen solchen Nagel handelt, ein Hörgerät, einen Rollator, ein Hüftgelenk, eine Physiotherapie oder ein anderes Heil- oder Hilfsmittel, welches von der gesetzlichen Krankenversicherung verordnet wird - ihnen allen ist gemeinsam, dass sie sich so gut wie nie einer vergleichenden Nutzenbewertung unterziehen müssen. Bei Auto, Kühlschrank oder Waschmaschine ist das längst normal, selbst bei Arzneimitteln wurde vor kurzem damit begonnen. Ob aber ein Rollator den Anforderungen seines Benutzers gerecht wird und der Preis angemessen ist, entscheiden die Hersteller selbst. Sie zertifizieren in der Regel ihr eigenes Produkt und der Markt, auf dem sie es anbieten, ist undurchsichtig, so Arzneimittelexperte Gerd Glaeske von der Universität Bremen bei der gestrigen Vorstellung des Heil- und Hilfsmittelreports. Die Universität hatte die Daten für die Barmer GEK, eine der größten gesetzlichen Krankenkassen, erhoben.
2012 gaben alle gesetzlichen Krankenkassen rund fünf Milliarden Euro für Heil- und 6,5 Milliarden Euro für Hilfsmittel aus, die Summen hatten sich in den fünf Jahren zuvor um 17 bzw. 28 Prozent erhöht. Nach den Ausgaben für Krankenhäuser, ärztliche Versorgung und Arzneimittel sind Heil- und Hilfsmittel der viertgrößte Posten in der Gesetzlichen Krankenversicherung. Im ersten Halbjahr 2013 sind bereits deutlich höhere Steigerungsraten in dem Bereich zu verzeichnen. »Alterung und technischer Fortschritt treiben den Bedarf in die Höhe«, so Barmer-Vorstandschef Rolf-Ulrich Schlenker.
Viel mehr Menschen als bisher angenommen seien auf Heil- und Hilfsmittel angewiesen, heißt es in dem Krankenkassen-Report. So müssten etwa 160 000 Menschen in Deutschland mit einem künstlichen Darmausgang versorgt werden - bislang hatte man mit einer Zahl von 100 000 Betroffenen gerechnet. »Auch die Tatsache, dass 270 000 Menschen in Deutschland Adaptionshilfen wie Anzieh-, Greif- und Lesehilfen benötigen, zeigt die wachsende Bedeutung dieses Versorgungssektors«, sagte Gerd Glaeske. Er verwies aber auch darauf, dass die Qualität der Heil- und Hilfsmittel sehr unterschiedlich ist und nannte als Beispiel die Stoma-Versorgung, das sind künstliche Darmausgänge oder Harnableitungen bei Menschen mit schweren Erkrankungen wie beispielsweise Darmkrebs. Hier seien dringend eine bessere Forschung und eine Optimierung der Versorgung nötig. Viele Patienten in Deutschland sind Glaeske zufolge durch fehlerhafte oder riskante Implantate gefährdet. Das seien keine Einzelfälle, sondern Tausende. Bekannt seien etwa Fälle, in denen Metallabrieb von künstlichen Gelenken das Blut verunreinige. Andere Patienten würden mit untauglichen Herzschrittmachern alleingelassen: Der Hersteller sage, die Defibrillationselektrode könne wieder entfernt werden - deutsche Kardiologen warnen davor.
Auch Hörgeräte gebe es in den unterschiedlichsten Varianten. Oft zahlten die Versicherten Tausende von Euro zusätzlich, obwohl ihnen mit einem Apparat für ca. 800 Euro, die ab November von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen werden sollen, ausreichend geholfen wäre. Kaum jemand brauche an die 50 Hörkanäle, so die Krankenkassenvertreter, und die wenigsten einen Rollator mit Ledergriffen, Handytäschchen, Speisetablett oder Golftasche. Fehlen nur noch die Goldspeichen.
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