100 Prozent Taktik

Wie aus dem Kommunisten Jürgen Trittin ein grüner Staatsmann wurde

  • Reimar Paul
  • Lesedauer: 7 Min.

An einem Morgen im Herbst 1979 steht Jürgen Trittin auf dem Göttinger Campus. Er hat einen Motorradhelm auf dem Kopf und ein Megafon in der Hand. In der Nacht haben Studenten die ehemalige, seit Jahren leer stehende Universitäts-Augenklinik aufgebrochen und besetzt. Wie in anderen Städten ist auch in Göttingen der Wohnraum knapp und teuer. Trittin fordert die Kommilitonen auf, zur Augenklinik zu eilen und die Besetzung zu unterstützen.

Schon dieser Rückblick macht klar: Trittin war keiner, der selbst Schlösser knackte und Matratzen in besetzte Häuser schleppte. Er war vielmehr einer, der Proteste organisierte. Einer, der Kampagnen plante, nicht unbedingt im Hintergrund, aber auch nicht in der allerersten Reihe.

In eine große Führungsrolle ist Trittin erst bei den Grünen geschlüpft. Ein Spitzenamt wird der 59-Jährige künftig in der Partei aber nicht mehr bekleiden. Wegen des schlechten Bundestagswahlergebnisses gibt er in dieser Woche seinen Rücktritt als Fraktionschef bekannt. Er hat dies auch damit begründet, dass mit Blick auf den Wahlkampf 2017 ein Generationswechsel notwendig sei. An Sondierungsgesprächen mit der Union würde er sich aber noch beteiligen. Als mögliche Nachfolger Trittins und der ebenfalls von der Fraktionsspitze zurückgetretenen Renate Künast stehen der Verkehrspolitiker Anton Hofreiter sowie Katrin Göring-Eckardt und Kerstin Andreae vom Realo-Flügel bereit.

Inwieweit es wirklich die von Trittin maßgeblich verantworteten Steuerpläne waren, die den Grünen das schlechte Wahlergebnis bescherten, und inwieweit die von Unionspolitikern und manchen Medien dankbar als Vorlage aufgegriffene Veröffentlichung des Politikprofessors Franz Walter zu den Jugendsünden der Grünen in Sachen Pädophilie, wird nicht eindeutig zu klären sein. Wie auch immer - Trittins Rücktritt war unausweichlich; so funktioniert nun mal der Politikbetrieb.

Während seines Studiums der Sozialwissenschaften Ende der 70er Jahre rebelliert Trittin noch gegen diesen Politikbetrieb. Er ist Mitglied im Kommunistischen Bund (KB). Die gemäßigt-maoistische Organisation hat dank einer schmiegsamen Bündnispolitik und der Zeitung »Arbeiterkampf«, die viele Themen aus den sozialen Bewegungen aufgreift, Einfluss in der linken Szene Norddeutschlands.

Trittin gehört als Außenreferent zeitweise dem Allgemeinen Studierenden-Ausschuss (AStA) an und wirkt als Präsident des Studierenden-Parlaments (StuPa). Eine ganz große Nummer im KB ist er allerdings nicht. Da gibt es drei, vier Genossen, die in der informellen Hierarchie vor ihm stehen, die etwas besser reden und ein wenig schärfer agitieren können.

Nach einer Austrittswelle gibt es im KB heftige Kontroversen um die künftige Ausrichtung des Bundes. Der Konflikt eskaliert an der Frage, wie man sich gegenüber der entstehenden grünen Partei verhalten soll. Eine Mehrheit befürwortet die Strategie, mit einem links-alternativen Block von außen Druck auf die Grünen auszuüben. Die sogenannte Zentrumsfraktion will dagegen innerhalb der Partei und ihrer Vorläufer-Listen Einfluss auf Programm und Personal nehmen.

Ende 1979 spaltet sich die Zentrumsfraktion mit rund 200 Mitgliedern vom KB ab und konstituiert sich als Gruppe Z. Trittin ist dabei. Aus inhaltlicher Überzeugung? »Mal sehen«, sagt er damals sinngemäß bei einer privaten Feier, »mal sehen, was sich aus dem Projekt Grüne machen lässt.« 1980 tritt Trittin in die Partei ein.

Wahlprogramm mit Pädophilie-Forderungen

Ein stacheliger Igel schmückt den Titel des Programms der Alternativ-Grüne-Initiativen-Liste (AGIL) Göttingen. Im Kapitel »Schwule und Lesben« werden Änderungen im Sexualstrafrecht gefordert: Die Abschaffung des Paragrafen 175, der sexuelle Kontakte mit Homosexuellen unter 21 Jahren unter Strafe stellt. Und Änderungen der Paragrafen 174 und 176 des Strafgesetzbuchs, so »dass nur Anwendung oder Androhung von Gewalt oder der Missbrauch eines Abhängigkeitsverhältnisses unter Strafe stehen«. Die Einschränkung hätte also bedeutet, dass »einvernehmlicher« Sex zwischen Erwachsenen und Kindern legalisiert worden wäre. Presserechtlich verantwortlich für das Programm ist Trittin, der auch zu den Gründungsmitgliedern der AGIL gehört. Die genannten Forderungen hatte die Liste von der »Homosexuellen Aktion Göttingen« schreiben lassen. Dass der Göttinger Politologe Franz Walter, der im Auftrag der Grünen die Pädophilie-Debatte in der Frühphase der Partei untersucht, den Programmfund kurz vor der Bundestagswahl in einer Zeitung präsentierte, ist für Trittins ehemaligen AGIL-Weggefährten Bernd Beyer ein »Unding«. »Die Grünen waren damals Sammelbecken für ganz unterschiedliche Bewegungen«, sagt der Journalist und Fußballbuch-Verleger. »Jürgen mit Pädophilie in Verbindung zu bringen, ist einfach eine Schweinerei.«

Zweieinhalb Jahre arbeitet Trittin als Fraktionsgeschäftsführer der AGIL im Göttinger Rathaus, bevor er seine Karriere bei den Grünen startet. 1984 und 1985 ist er Pressesprecher bei der Landtagsfraktion, von 1985 bis 1990 Abgeordneter, die meiste Zeit davon Fraktionschef. 1990 holt ihn Gerhard Schröder als Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten in sein Landeskabinett. Weil ihn der Ressort-Zuschnitt unterfordert, beschafft sich Trittin noch die Zuständigkeit für Ausländerpolitik - und kann in der xenophoben Nachwende-Stimmung mit einigen Entscheidungen für Asylbewerber in der Szene punkten.

Als Sprecher des Grünen-Vorstandes von 1994 bis 1998 hinterlässt Trittin an der Seite der Realas Krista Sager und Gunda Röstel wenige politische Fußabdrücke. Das ändert sich, als ihn sein alter Spezi, der zum Bundeskanzler gewählte Gerhard Schröder, zum Minister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit macht. Ökosteuer, Dosenpfand, das Erneuerbare Energie Gesetz und ein halbherziger Atomausstieg machen ihn zur Lieblingszielscheibe von Opposition und Wirtschaftsverbänden. Als er den damaligen CDU-Generalsekretär Laurenz Meyer mit einem Skinhead vergleicht, schäumen Volkes Seele und Springer-Presse, Unionspolitiker fordern Trittins Rücktritt.

Auch auf der anderen Seite des politischen Spektrums eckt Trittin an. »Dass er gegenüber den Konzernen nicht mehr durchsetzen konnte als Restkontingente für die laufenden Atomkraftwerke, kreide ich ihm gar nicht an«, sagt ein altgedienter Anti-AKW-Aktivist. »Dass er aber Scheiße zu Gold macht und das Abkommen als irreversiblen Atomausstieg verkauft hat, das schon«. Als Trittin seine Parteifreunde auffordert, nicht mehr gegen Castortransporte nach Gorleben zu demonstrieren, erklären ihn die Widerständler im Wendland zur Persona non grata.

Trittin will Finanzminister werden

Einen der wohl bittersten Momente erlebt Trittin in seinem Wahlkreis Göttingen. Als er 1999 auf der 1. Mai-Kundgebung des DGB vor mehr als tausend empörten Zuhörern die Luftangriffe auch deutscher Flugzeuge gegen Jugoslawien rechtfertigt, gellt ihm ein wütendes Pfeifkonzert entgegen. Obst und Eier fliegen auf die Rednertribüne. Die Potsdamer Kampagne gegen Wehrpflicht zeigt Trittin wegen »Wehrpflichtentziehung durch Täuschung« an. Er habe sich seine Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer durch »Vorheucheln von Gewissensgründen gegen das Töten« erschlichen. Durch seine Zustimmung zum NATO-Einsatz habe sich erwiesen, »dass solche Gründe nur fingiert waren«. Tatsächlich begründete Trittin seine Verweigerung politisch, in der ersten Instanz wurde er deshalb nicht anerkannt.

Eine weitere Demütigung erfährt Trittin durch seinen Chef. Nach einer Intervention der Autohersteller weist Schröder den Umweltminister an, die Altautorichtlinie der EU im Ministerrat abzulehnen. Sie sieht vor, dass die Hersteller Altfahrzeuge zurücknehmen sollten. »Schröder hat ihn bei der Altautoverordnung zur Lachnummer der Nation gemacht«, urteilt etwa der frühere Bremer Grünen-Chef Hucky Heck. Der damalige Fraktionschef Rezzo Schlauch bezeichnet den Vorgang als die »bislang unverschämteste Einmischung der Wirtschaftslobby in die Politik«. Schlauch selbst wechselt 2005 in die Wirtschaft, wird unter anderem Mitglied im Beirat des Stromkonzerns und AKW-Betreibers Energie Baden-Württemberg (EnBW) und Aufsichtsratschef eines T-Shirt-Bedruckers.

Nach der Bundestagswahl 2005 scheitert Trittin bei der Wahl zum Fraktionschef gegen den Realo Fritz Kuhn. Vier Jahre später bekommt er den Job. Als Spitzenkandidat führt er gemeinsam mit Katrin Göring-Eckardt die Grünen 2013 in die Wahlniederlage. Nicht nur durch sein innerhalb wie außerhalb der Partei umstrittenes Steuerkonzept hat sich Trittin als Finanzexperte ins Spiel gebracht und mit dem Amt als Finanzminister (und Vizekanzler) in einer rot-grünen Koalition kokettiert. Diesem Ziel sollte wohl auch seine Teilnahme an dem Treffen der Bilderberg-Gruppe im Juni 2012 im US-Bundesstaat Virginia dienen. Bei diesen diskreten Konferenzen kommen seit 60 Jahren einflussreiche Personen aus Wirtschaft, Militär, Politik, Medien und Adel zusammen. Kritiker auch bei den Grünen sprechen von einer Art informeller Weltregierung. Trittin hat seine Anwesenheit geheim halten wollen, sie flog aber auf - ein Shitstorm im Internet ist die Folge.

Ein herber Verlust für die Grünen

»Keiner weiß, wofür er eigentlich steht. Der Mann hat sich zu hundert Prozent in Taktik aufgelöst«, charakterisiert der frühere Realo-Vordenker Hubert Kleinert einst seinen Parteifreund - ein hartes, aber nicht völlig abwegiges Urteil. Eine Taktik, die viele nicht mehr verstehen - um diesen Satz ließe sich die Bewertung vielleicht noch ergänzen. Als die Bundesregierung nach Beginn der Katastrophe von Fukushima nur acht der 17 deutschen AKW abschalten, die übrigen bis 2022 weiter betreiben wollen, trimmt Trittin seine Fraktion auf Zustimmung. Dabei fordert eine große Mehrheit der Deutschen die sofortige Abschaltung aller Meiler. Trittin ruiniert so den beschädigten Ruf der Grünen als Anti-AKW-Partei weiter.

Gleichwohl bedeutet Trittins Verzicht auf Führungsämter für die Grünen einen herben Verlust. Einen so klugen, scharfsinnigen und rhetorisch begabten Politiker wie ihn findet auch diese vom fortschrittlichen Bürgertum geprägte Partei nicht alle Tage.

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