Kürzen multipliziert die Krise
Studie aus der EU-Kommission weist auf Mitverantwortung Deutschlands hin
Stoff für Verschwörungstheoretiker oder doch nur ein ganz banaler Vorgang? Diese Frage stellt sich beim Umgang der EU-Kommission mit einer internen Studie mit dem sperrigen Titel »Fiscal consolidations and spillovers in the Euro area periphery and core« (Haushaltskonsolidierungen und Übertragungseffekte in der Peripherie und im Kern der Eurozone). Vergangene Woche wurde die von dem Ökonomen Jan in’t Veld verfasste Untersuchung auf der Webseite der EU-Kommission veröffentlicht, doch kurze Zeit später war sie wieder verschwunden. Allerdings hatte das Dokument bereits der Brüsseler Korrespondent der griechischen Tageszeitung »Kathimerini« heruntergeladen, die über die Studie berichtete. Auf Nachfrage hieß es seitens der Kommission, das Dokument sei noch nicht fertig für die Publikation und das Hochladen ein Missgeschick gewesen. In Kürze werde es ohne wesentliche Änderungen erneut veröffentlicht, was inzwischen auch passierte. Gegenüber »nd« verwies der Autor der Studie, der für die EU-Generaldirektion Wirtschaft und Finanzen schreibt, auf schlecht lesbare Grafiken hin, die in der neuen Version verbessert worden seien.
Eines indes steht fest: Auch in der jetzt zur Verfügung stehenden Version wartet die Untersuchung mit Aussagen auf, die insbesondere für die deutsche Regierung unangenehm sind. Veld kritisiert, dass die von Deutschland jahrelang betriebene Kürzungspolitik durch Übertragungseffekte (spillovers) die Misere der ökonomisch schwächeren Länder mit herbeigeführt habe. Durchaus naheliegend also, dass die EU-Kommission mit den Ergebnissen nicht ganz einverstanden war. Ihr redaktioneller Vermerk, dass die in dem Papier vertretene Meinung nicht notwendigerweise der der Europäischen Kommission entsprechen müsse, hat nicht verhindert, dass Spekulationen ins Kraut schossen. Diesen zufolge standen letzte Woche Verhandlungen über einen Nachtragshaushalt für die EU-Kommission an. Die Nationalstaaten mussten dem zustimmen. Deutschland als größten Nettozahler mit Kritik zu ärgern, wäre nicht der geschickteste Schachzug gewesen.
Im Zentrum der Studie stehen die Übertragungs- und die Multiplikator-Effekte. Erstere besagen, dass eine Politik der Haushaltskonsolidierung mit Konsequenzen für die mit dem Land ökonomisch verflochtenen Staaten einhergeht. Zum Beispiel reduziert sich die ausländische Nachfrage nach deren Gütern. In der Studie heißt es, Übertragungseffekte der Konsolidierungen in Deutschland und anderen Kernländern der Eurozone hätten die allgemeine wirtschaftliche Lage verschlechtert. Als Alternative werden daher temporäre Konjunkturmaßnahmen der Überschussländer ins Spiel gebracht. So könnten ihre Leistungsbilanzüberschüsse reduziert werden.
Mit dem Multiplikator-Effekt wiederum wird versucht abzuschätzen, um wie viel das Bruttoinlandsprodukt steigt oder sinkt, wenn der Staat seine Ausgaben erhöht oder kürzt. Das klingt ökonomisch-technisch, ist aber für Millionen Menschen in Griechenland, Portugal und Spanien von enormer Bedeutung: Je größer der Multiplikator von Staatsausgabenkürzungen, desto unwahrscheinlicher ist es, dass sie aus der Spirale aus Rezession und Schulden herauskommen. Dieser Effekt wird in der Studie höher veranschlagt als in bisherigen EU-Untersuchungen. Velds Botschaft: Der Sparkurs treibt die Krisenländer noch tiefer in die Rezession.
Bereits vor einem Jahr hatte der Chefökonom des Internationalen Währungsfonds (IWF), Olivier Blanchard, die von der EU angenommene, negative Mulitplikator-Wirkung des Sparkurses als zu niedrig bewertet. Brüssel schoss damals gegen diese »extreme Ansicht«.
Inzwischen hat sich der Zweifel offenbar auch in den EU-Institutionen festgesetzt. In dieses Bild passt, dass der Ausschuss des Europaparlaments für Wirtschaft und Währung am Montag fraktionsübergreifend beschloss, einen Untersuchungsbericht zur Arbeit der Troika aus Europäischer Zentralbank, EU-Kommission und IWF in Griechenland, Portugal, Irland und Zypern zu erstellen. Die Troika setzte die harten Sparprogramme durch, welche sich als kon-traproduktiv erwiesen, weil sie das Wirtschaftswachstum abwürgten.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.