Weshalb eigentlich Teneriffa?

Raubbau gestern und heute, aber auch Unberührtes und Berührendes

  • Michael Müller
  • Lesedauer: 6 Min.

Wer nach gut vier Stunden noch einigermaßen wachen Auges den Landeanflug auf Teneriffa-Süd wahrnimmt, dem fallen zwei Gegebenheiten auf: zum einen eine weithin raue, bergige Landschaft, bar allen Grüns, zum anderen felsige Uferstreifen, deren rasant ansteigendes graues Hinterland vor allem in Buchten mit uniformen Häuservierteln und -zeilen befleckt ist.

Jede der beiden Anflugbeobachtungen hat für die rund 250 Kilometer westlich der marokkanischen Atlantikküste liegende Kanareninsel einen existenziellen Hintergrund. Die Kargheit der Landschaft ist nicht vulkanischer Herkunft, sondern Ergebnis menschlichen Raubbaus. Die spanischen Konquistadoren hatten im 16. Jahrhundert die kanarische Kiefer und den Lorbeer als Bau- und Energiestoff weitgehend abgeholzt; davon dürfte sich vor allem der Süden Teneriffas als Ökosystem auf natürliche Weise nie erholen.

Die sich in unmittelbarer Küstennähe hinziehenden stupiden Siedlungen und Hotelkonglomerate sind rund 500 Jahre später entstanden. Der vom beginnenden Massentourismus getriebene Bauboom - auch eine Art Raubbau - hatte Mitte des 20. Jahrhunderts eingesetzt. Und er ist auch jetzt längst nicht gebändigt, da »die Profitraten nur mit denen von Drogen- und Waffenhandel sowie Wettspiel und Prostitution vergleichbar sind«, wie ein langjähriger einheimischer Beobachter der Szene gegenüber dem Autor versicherte.

Indes sind Naserümpfen und Kopfschütteln beim Gast aus Mitteleuropa fehl am Platze. Vielmehr sollte er sich, im Sinne von Altmeister Goethe, angesichts der Sünden der anderen, erst mal seiner eigenen erinnern - nicht zuletzt deshalb, um die Menschen verstehen zu können, wie sie mit den Gegebenheiten umgehen. Doch erhebt sich spätestens hier die Frage: Reist man deshalb nun unbedingt nach Teneriffa?

Natürlich nicht. Die Verlockung, die jährlich fast fünf Millionen europäische Touristen hierher zieht, ist das Klima, präziser: der vor allem bei den Nordländern aller Couleur so viele wohlige Assoziationen weckende »ewige Frühling«. Die Durchschnittstemperaturen für Tag und Nacht liegen zwischen August (26/19 Grad) und Februar (21/15) relativ dicht und milde beieinander. Der warme Passat und der frische Kanarenstrom schaffen die nötige Balance. Kann man sich also ums Mittelmeer herum den Frühling und den Sommer nach gut vier Flugstunden von Berlin aus verlängern, hat man auf den Kanaren das ganze Jahr über Frühling und Sommer. Und dies eben nicht irgendwo ganz weit in Afrika, Südostasien oder in der Karibik, sondern nach nur gut vier Flugstunden in einem EU- und Euroland, denn die Kanaren gehören schließlich zu Spanien.

Durchstreift man Urlaubszentren im Südwesten, etwa von El Médano über Punta Callao, Los Cristianos und Playa de las Américas bis nach Costa Adeje, dann dominiert hier eindeutig All-inclusiv-Urlaub zwischen Superschnäppchen bis Superluxus. Diese Region buchen jährlich fast zwei Drittel aller Teneriffatouristen überhaupt. Deren jeweiliges Urlaubserlebnis unterscheidet sich letztlich nur im Komfortgrad: Essen, Poolbaden (da die Strände selbst meistens gewöhnungsbedürftig felsig oder vulkangrau sind), Sonnen auf uniformen Liegen, Animation, ein bisschen Shoppen, Absacker nehmen. Eigentlich haben nur Rucksack- und Aussteigertouristen echt die andere Wahl.

Was keineswegs heißt, dass es nicht wie überall so auch auf Teneriffa Unverwechselbares und wirklich Emotionales gäbe. Allein rein rechnerisch liegt das nahe. Immerhin sind noch fast 2000 der insgesamt 2050 Quadratkilometer großen Insel natur- und kulturbelassen. Nämlich fast alles innerhalb des schmalen touristischen Küstenringes.

Schon eine Tageswanderung im Küstenhinterland von Los Christianos nach El Médano (»die Düne«) zum mit über zwei Kilometer längsten Strand von Teneriffa macht Blick und Kopf frei (hin und zurück etwa 40 Kilometer). Erst recht eine Mountainbiketour von Adeje in Richtung Teide-Nationalpark ins Zentrum der Insel (wofür man sich am besten zwei, drei Tage Zeit nimmt). Durch Schluchten mit Euphorbien und Feigenkakteen, über mit Vulkanschotter überzogene Wege, denn der Pico del Teide selbst ist mit seinen 3718 Metern nicht nur der höchste Berg Spaniens, sondern auch weltweit der dritthöchste Vulkan. Etwa auf der Höhe des Observatorio del Teide (2400 m) tut sich eine einzigartige kanarische Totale auf: Westlich ist die Insel La Gomera auszumachen, östlich strahlt Gran Canaria in den azurblauen Horizont. Während der letzten Abfahrt von oben winkt der Vulkangipfel dann mit seiner mystischen UFO-Wolke, die er mitunter am klaren Himmel aufziehen lässt.

Am östlichen Rand des Nationalparks zieht sich der Esperanzawald entlang. Nahe des Rastplatzes Las Raices stößt man auf eine schlanke Gedenksäule mit der Inschrift »Paz« und dem Datum »18. Juli 1936«. Doch »Frieden« nimmt sich an diesem Ort ziemlich zynisch aus. General Franco schwor hier die ihm auf Teneriffa unterstellten Soldaten auf den Bürgerkrieg ein. Auf solche Erinnerungen an den Caudillo trifft man auf Teneriffa übrigens dutzendfach. In der Hauptstadt Santa Cruz hatte die Inselregierung erst vor vier Jahren die Courage, dem 1975 gestorbenen Massenmörder und Totengräber der einstigen Spanischen Republik die Ehrenbürgerschaft abzuerkennen. Die zur Stierkampfarena führende größte Flaniermeile der Stadt trägt nach wie vor seinen Namen, und am großen Placa de Espana nahe dem Hafen rühmt ein riesiger Denkmalkomplex von 1947 den Sieg der Franco-Faschisten im Spanischen Bürgerkrieg.

Hochinteressant kann es auch werden, wenn man sich auf die Spuren der Guanchen begibt, der Ureinwohner von Teneriffa. An der Uferpromenade von Candelaria sind sie seit 20 Jahren in neun überlebensgroßen Bronzestatuen verewigt. Der kanarische Bildhauer José Abad modellierte sie als wahrhaft edle Wilde. Möglicherweise waren sie das sogar. Doch die spanischen Konquistadoren unterwarfen sie im 16. Jahrhundert mit Schwert und Kreuz, versklavten oder töteten sie, bis ein Rest, wie es laut üblicher Sprachreglung euphemistisch heißt, »in der Bevölkerung der Eroberer aufging«. Wer sich im Naturkunde- sowie Archäologischen Museum von Santa Cruz genügend Zeit nimmt, kommt eher zu einem absolut genozidalen Schluss.

Inselpräsident Carlos Alonso nach den künftigen touristischen Leitlinien gefragt, hebt als besonders zu fördern hervor: Beobachtung von Meerestieren und des Sternenhimmels, Wassersport, Wandern und Radfahren. Er kommt damit also dem durchaus nahe, worauf sich auch ruhe- und tapasgesättigte All-inclusiv-Urlauber mal zur Abwechslung einlassen würden. Mehr zu verdienen als mit solch neuen Programmen dürfte in Zukunft aber wohl mit einer noch relativ neuen Klientel sein. Nämlich mit russischen Touristen.

Die sind auf All-inclusiv-Angebote, und da besonders auf Vier- und Fünf-Sterne-Hotels geradezu fixiert. Seit 2008 glänzen sie mit jährlichen Ankunfts- und Umsatzsteigerungsraten bis zu 40 Prozent, wie Ricardo de la Puente, Tourismuschef in der Inselverwaltung, erfreut feststellt. Russisch läuft Deutsch und Englisch auf Speisekarten und Reklameschildern den Rang ab. Neuerdings gibt es mit »Nowosti tenerifje« die erste russische Tageszeitung; das Zwei-Monats-Magazin »Ostrow Sokrowischtsch« erscheint schon länger. Dessen aktuelle Ausgabe bringt eine lange Reportage über die Eröffnung des ersten russischen Schulzentrums für Vier- bis 14-Jährige.

Russland wird besonders für den Familienurlaub beworben. Aktuell mit einem Plakat, das Tennisstar Maria Scharapowa (27; Wimbledon-Siegerin 2004, derzeit Platz 4 der Weltrangliste) auf dem Teide-Vulkangipfel zeigt. Allerdings noch ohne Mann und Kind. Indes twitterte sie laut »Nowosti tenerifje« von oben, dass die Insel bei ihr »ganz außergewöhnliche Emotionen ausgelöst« habe. Was ja durchaus auch ein reizvolles Reisemotiv sein kann.

Infos

  • Touristenamt Teneriffa: www.puertodelacruz.es
  • alle Reisebüros mit TUI-Angebot: www.tui.com
  • Literatur: Tenriffa von Jürgen Richter u. Ralf Nestmeyer, Stürtz, 2009, geb.,136 Seiten.

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