»Glaube beginnt da, wo alle Feindbilder in sich zusammenfallen«

Der Religionsforscher Michael Skriver über Karikaturenstreit, die Vision von einer Familie und das Versöhnungspotenzial Südafrikas

  • Lesedauer: 10 Min.
Michael Skriver (70) studierte evangelische Theologie in Marburg, Hamburg, Tübingen und Erlangen. 1961-63 war er Sekretär des Deutschen Zweigs des World Congress of Faiths. 1965 ging er als Pfarrer für die deutsche Gemeinde gemeinsam mit seiner Frau nach Windhoek, Südwestafrika/ Namibia, das er nach Konfrontationen mit Nazitum und südafrikanischer Apartheid-Polizei 1968 vorzeitig verließ. 1968-1972 Studium der klassischen Homöopathie, Naturheilkunde und Osteopathie in Johannesburg, Südafrika, wo er dann eine Praxis betrieb, ab 1976 bis 2001 in East London (Ost-Kap). Skriver lebt heute als freier Religionsforscher mit seiner Frau in Kapstadt.
ND: Herr Skriver, Sie leben seit über 40 Jahren im südlichen Afrika, einer an Konflikten wahrlich nicht armen Region. Wie wird der von wachsender Aggressivität begleitete Streit um die Mohammed-Karikaturen dort wahrgenommen?
Skriver: Als in der vorigen Woche etwa 12 000 Muslime durch das Zentrum von Kapstadt zogen, um gegen die dänischen Karikaturen zu demonstrieren, war das so etwas wie ein Kulturschock: Also bei uns auch? Wird es zu gewalttätigen Ausschreitungen kommen? Um die Stadthalle herum und auf den Mauern war ein großes Polizeiaufgebot in Stellung gegangen. Aber die Organisatoren hatten den Demonstranten eingeschärft, es der Presse nicht zu gönnen, neue Beweise für eine angeblich gewalttätige Mentalität der Muslime auf ihr digitales Zelluloid zu bringen. Dem dänischen Botschafter, Tolben Brylle, wurde ein Memorandum übergeben, dass man alle dänischen Waren boykottieren werde, wenn sich die dänische Regierung nicht unverzüglich und eindeutig entschuldigen und den Herausgeber von »Jyllands-Posten« rügen würde. Auch von Seiten der Regierung hier wurde alles getan, um die Gemüter zu beruhigen.
Eine Gesellschaft, die an Stelle eines »Nürnberger Gerichts« für die »Kommission für Wahrheit und Versöhnung« optierte, ist offenbar gegenüber den Anliegen von polarisierten Parteien besonders aufgeschlossen.

Welche Rolle spielen im heutigen Südafrika Religionskonflikte?
Interessanterweise so gut wie keine. Sogar während der Apartheidära hat sich der Staat wenig um religiöse Unterschiede gekümmert, solange Gläubige sich nicht politisch engagierten. Beschäftigung mit dem Jenseits war genauso o.k. wie Sport; das Diesseits ändern zu wollen, das war allerdings eine andere Sache. Besonders die anglikanische Kirche hat sich in Südafrika und in der südafrikanischen Kolonie Südwestafrika entsprechend unbeliebt gemacht. Umso mehr lösten die jüngsten Ereignisse Verwunderung aus, weil es sich hier nun tatsächlich um primär religiöse Angelegenheiten handelte und nicht um menschenrechtliche wie in der Vergangenheit. Südafrika hat aber durchaus ein Potenzial an stammesbedingtem und religiös-kulturellem Konfliktstoff.

Worin äußert sich das?
Ich gebe Ihnen dafür ein Beispiel, das den meisten Menschen leider eher fern liegen mag. Seit Beginn des vorigen Jahrhunderts wurden in Europa Stimmen laut - wie die des radikalen Ethikers Magnus Schwantje -, die Rechte auch für unsere allernächsten Verwandten in der Schöpfung, die Tiere, verlangten. Es gab weder Tierschutzgesetze noch Tierrechtsparteien, aber es wurden gegen den Widerstand der christlichen Kirchen mit ihrem schöpfungsbezogenen »Apartheidsdenken« Tierschutzvereine gegründet, die insbesondere gegen die Vivisektion eintraten. In der afrikanischen Kultur gibt es, von Ausnahmen abgesehen, für Tiere wenig Mitgefühl. Erwähnt seien nur betäubungsloses Schächten und qualvolle Opferriten. Man kann diese Dinge den Menschen nicht zum Vorwurf machen, im »religiösen« Kult ist alles vorgeschrieben.
Bei dem neu aufgeblühten politischen Selbstverständnis und kulturellen Selbstbewusstsein in diesem Land werden leider Versuche, Gehör zu finden und Mitgefühl in dieser Frage zu wecken, gern als Angriff auf die afrikanische Kultur abgeblockt. Ich denke, die Menschen müssen überzeugt werden, damit von hier ein Signal zur Beendigung auch dieses namenlosen Leids ausgeht, dass Südafrika ein Vorbild wahrer Kultur und Menschlichkeit werden könnte.

Verstärkt wird jetzt das Schlagwort vom Dialog der Kulturen und Religionen bemüht. Kann es überhaupt einen solchen globalen Dialog geben, wenn bereits ein marginales Ereignis wie die Karikaturen in einer eher unbedeutenden Zeitung solche Exzesse auslösen?
Die Aussichten auf einen religiösen oder humanistischen Austausch scheinen in der Tat gering zu sein, wenn man bedenkt, dass die Menschen es zulassen, ein paar Zeichnungen eine so ungeheure Macht über sich selbst gewinnen zu lassen - in Form von Ärger, Hass, Wut. Die entscheidende Vo-raussetzung für ein weiterführendes Gespräch wie für eine Mediation ist doch, dass ich mit meinem Gegenüber sprechen kann, ohne ständig Angst haben zu müssen, dass in dem Augenblick, wo ich einen Fehler mache, zum Beispiel in persönliche Kritik verfalle, bei ihm eine Leitung durchbrennt.

Woher kommt solche Macht?
Es hat sich eine »kritische Masse« des Konfliktstoffs angehäuft, bei der wir uns fragen müssen, wie das passieren konnte, was wir falsch gemacht haben. Ich meine, die Karikaturen sind als Auslöser deshalb so wirksam geworden, weil ihnen eine unselige Geschichte vorausgegangen ist. Wir gehen auf den, der anders ist, los, statt auf ihn zuzugehen. Um das zu ändern, sollten wir zuallererst in uns gehen. Sind wir in unserem kritischen Denken nicht viel zu bipolar, antithetisch? Gut und böse, richtig und falsch - so einfach ist das eben nicht. Auch wenn dieses Denken immer mehr die Politik beherrscht mit ihren Reichen und Achsen des Bösen. So kann man nicht vergeben. Aber das Vergeben ist keine überholte religiöse Kategorie, es ist existenziell für das menschliche Zusammenleben.

Aber brauchen nicht die, die für sich den »rechten« Glauben reklamieren, immer auch ein Feindbild, um sich abzugrenzen?
Erzbischof Desmond Tutu, der wegen seines unerschütterlichen Eintretens für Gewaltlosigkeit als der südafrikanische Martin Luther King gilt, hat das in einer seiner Reden folgendermaßen beantwortet: »Und so sagte Gott: Ich habe einen Traum, dass meine Kinder auf einmal erkennen, dass sie eine Familie sind.« Eine Familie. Und damit meinte Tutu eben nicht nur jene, die sich als Christen bekennen, sondern alle Menschen, egal welcher Religion, welchen Herkommens, welcher Hautfarbe. Und zu dieser Familie gehören israelische Siedler genauso wie radikale Palästinenser, gehört George W. Bush ebenso wie Osama bin Laden. Die Menschheit - eine Familie! Tutu nannte eine solche Betrachtung die radikalste politische Sichtweise überhaupt.
Nicht das Feindbild, sondern der Wille zur Versöhnung muss den Glauben konstituieren. Glaube beginnt da, wo alle Feindbilder in sich zusammenfallen.

Das klingt gut, funktioniert aber heute ebenso wenig wie während der vergangenen Jahrhunderte?
Leider ist das so. Und gerade die Christen täten gut daran, sich an die Stelle in der Bergpredigt zu erinnern, in der die Feindesliebe damit begründet wird, dass Gott die Sonne aufgehen lässt »über Böse und Gute« und es regnen lässt »über Gerechte und Ungerechte«. Hier ist wieder Tutus Vision: eine Familie. Man sollte meinen, dass dies das unbekannteste Wort des historischen Jesus ist. Übrigens gibt es auch wunderbare Berichte, wie der Prophet Mohammed für seine Feinde bittet und nicht für ihren Untergang.
Hinhören, Zuhören - das kann entwaffnend sein. Palästinenser, Israelis, Iraker, Iraner, Amerikaner - alle haben Bedürfnisse, die beachtet werden wollen. Erreichen denn die Amerikaner mit ihrem Krieg gegen den Terrorismus etwas, was sie wünschen? Sie verlieren die moralische Unterstützung der friedliebenden Mehrheit der muslimischen Gesellschaft, die sich in ihren Bedürfnissen nicht unterstützt fühlt ...

Die großen Religionen sind stets auch organisierte Institutionen, als Kirchen oder in anderer Form. Als solche handelten und handeln sie auch in Konflikten, oft mit Gewalt. Könnte der individualisierte Gottesglaube, der heute in den westlichen Ländern immer mehr Anhänger findet, allerdings von den christlichen Amtskirchen scharf abgelehnt wird, unsere Welt nicht friedlicher machen?
Glaube ist letztlich immer individuell. Leider wird diese Tatsache durch die Geschichte der Religionen auch immer wieder verschüttet. 1956 studierte ich in Hamburg bei Helmut Schelsky Religions-Soziologie. Schelsky war der wohl einflussreichste Soziologe der westdeutschen Nachkriegszeit. Durch ihn fielen mir einige besonders große Schuppen von den Augen. In dem Augenblick nämlich, wo der Begründer einer Religion abtritt, passiert ohne Ausnahme stets das Gleiche. Das große Werk soll erhalten und gesichert werden. Dazu muss organisiert und auch institutionalisiert werden, sonst hält es nicht. Und so beginnt ein Veränderungsprozess, unweigerlich und unaufhaltsam: Der lebendige, fließende Geist, auch wenn er weiterhin proklamiert wird, nimmt nun eine feste Form an, die sich von den lebendigen Anfängen immer mehr unterscheidet. Die Devise muss darum lauten: Zurück zu den Anfängen!

Ist das denn überhaupt möglich?
Mittels moderner Sprachwissenschaft und Textkritik kommt Erstaunliches zu Tage, mehr, als wir früher zu träumen wagten. Dazu gehört Mut, der in den letzten 70, 100 und mehr Jahren auf christlicher Seite von einigen Forschern aufgebracht worden ist. So hat schließlich der Erlanger Neutestamentler Ethelbert Stauffer (1902-1979) die historische Jesusforschung, die in eine Sackgasse geraten war, auf ganz neue Grundlagen gestellt. Ich empfehle dazu sein Buch »Jesus war ganz anders«. Das vielleicht wichtigste Ergebnis, das sich beim Abtragen so vieler Schichten herauskristallisierte, war, dass die entscheidende Thematik am Anfang die Offenbarung der Menschlichkeit Gottes war und nicht das Apostolische Glaubensbekenntnis. Für alle Kirchen und alle Religionen gilt heute noch immer, dass das Wasser in der Tiefe liegt.

Doch offenbar wird immer weniger danach gesucht.
Ich meine das im Sinne von Gottfried Herders Wort: Die wahre Kirche durch alle Länder, durch alle Zeiten, ist nur eine. Nur auf der Oberfläche tobt der Streit um den angeblich wahren Glauben. Wenn das Kleben am Zufälligen und Gewordenen durch ehrliche Forschung von Kirchen und Religionen ersetzt wird, sind einer fruchtbaren Zusammenarbeit im globalen Sinn keine Grenzen gesetzt. Glaube kann nur individuell sein, ja. Gerade deshalb muss der moderne Mensch darauf achten, dass er in seinen Alternativen nicht unwillentlich und unwissentlich wieder auf altes Gleis gerät.

Wo sehen Sie denn, was den aktuellen Konflikt betrifft, ein solches Bemühen?
Zum Beispiel hier, in Südafrika, bei der »Regenbogen-Nation«. Aufgrund der in jeder Weise bunten Zusammensetzung, der traumatischen Geschichte und des Erfolgserlebnisses, 1994 ohne Blutvergießen eine selbstständige Nation geworden zu sein, wirkt sich ein vielleicht schon ins Unterbewusste übergegangener Entschluss aus, auf jeden Fall zusammenzuhalten und Polarisationen, welcher Art auch immer, zu widerstehen. Das gelingt dem jungen Staat natürlich nicht stets so, wie er es möchte. Aber bislang funktioniert es auch im Streit um die Mohammed-Karikaturen. Eine wichtige Erkenntnis hier in Südafrika - und sicherlich nicht nur hier - ist, dass die muslimische Bevölkerung keineswegs eine politisch uniforme Größe ist. Es gibt eine relativ kleine Gruppe von Radikalen, die aufgrund ihrer Lautstärke alle einschüchtert. Wenn dann noch gezielte Angriffe von außen hinzukommen, rücken einfach alle zusammen. So erklärte der hiesige Präsident der muslimischen Jugendbewegung, Naeem Jeena, die Muslime müssten erkennen, dass sie selbst an der Verewigung von Stereotypisierungen schuld sind, wenn sie sich abkapseln und weigern, die Extremisten von innen heraus zu verurteilen.

Der religiöse Versöhnungsgedanke hat Ihr Leben und Ihre Arbeit geprägt. Der Beginn des 21. Jahrhunderts sieht weltweit die Zunahme von Konflikten mit religiösem Kontext. Haben Sie noch Hoffnung auf Versöhnung?
Ich meine sogar, dass es trotz aller Rückfälle in Ärger, Hass, Gewalt und Krieg noch nie so viele ermutigende Ansätze gegeben hat wie heute, um der Menschheit und der Erde zu helfen. Abgesehen von den angesprochenen Zusammenhängen schlüsselhafter Art zwischen Gottesbild, Gewaltfreiheit und kreativer Feindesliebe gibt es heute ausgezeichnete Literatur und Einrichtungen für Friedensforschung und Konfliktbewältigung, die an keine Konfession, Kirche oder Religion gebunden sind. Eines der besten Grundlagenbücher ist das des britischen Psychologen und Schriftstellers Edward de Bono: »Konflikte. Neue Lösungsmodelle und Strategien«. De Bono zeigt, wie man sich aus eingefahrenen Denkmustern lösen kann. Gerade der aktuelle Streit legt ja solche Denkmuster nachgerade wie im Labor offen. Oder nehmen Sie Marshall B. Rosenberg, den international aktiven Psychologen und Mediator aus den USA und sein Buch »Konflikte lösen durch gewaltfreie Kommunikation«. Dieser ungewöhnlich erfahrene und erfolgreiche Lehrer kann jeden, der verständliche Zweifel an der Menschheit hat, aufrichten und neu motivieren. Was organisierte Religion leider Gottes in erschreckendem Ausmaß verpasst hat, ist Forschung auf diesen Gebieten. »Säkulare« Kräfte haben das stark übernommen und arbeiten mit zunehmendem Erfolg.
Ich möchte gerne noch einen Satz von Ralph Exner-Sinz zitieren, der sechs Jahre Konzentrationslager Dachau überlebt hat und der später einen Freundeskreis schuf: »Die neue Form der Religion ist die Menschlichkeit.«

Interview: Ingolf Bossenz
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