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  • Politik
  • dem Osten - damals und heute: Siegfried Fülle Asse

«Laienhaft und ohne System»

Der dreifache Olympia-Starter aus Leipzig ging nach der Wende nach Bayern Von Karl-Wilhelm Götte

  • Lesedauer: 3 Min.

München sollte das Leben von Siegfried Fülle bestimmen. Vor 40 Jahren kam es zum ersten sportlichen Kontakt mit der bayerischen Landeshauptstadt. Als 20-Jähriger qualifizierte er sich als DDR-Turner bei der zweiten Olympia-Ausscheidung in München für die gesamtdeutsche Riege in Rom. Siebenter wurde er damals mit der gemeinsamen Mannschaft und 27 im Mehr kämpf. 1964 und 1968 (erstmals als DDR) gewann er dann jeweils Mannschafts- Bronze. Ebenso mit der DDR bei der WM 1966 in Dortmund. Dreimal bei Olympischen Spielen, das schafften als deutsche Turner bisher nur noch sein späterer Schützling Klaus Koste (Leipzig) und Andreas Wecker (Berlin), der mit seinem vierten Olympia-Auftritt den Fülle-Rekord in Sydney überbieten wird.

Seine aktive Turnerlaufbahn verbrachte Siegfried Fülle, der aus Greiz stammt, von 1956 bis 1969 beim SC DHfK Leipzig, der damaligen Hochburg des DDR-Turnens. Nachdem der Textilfacharbeiter sein Abitur an der ABF nachholen konnte, studierte er an der Leipziger DHfK Sport.

Mit seinem Karriereende als Turner 1969 schloss Siegfried Fülle auch sein Studium ab und begann nahtlos seine Trainerlaufbahn in Leipzig. Bereits 1972 erlebte er als junger Trainer bei den Olympischen Spielen - wieder in München - seinen größten Erfolg. Der Leipziger Klaus Koste gewann Gold im Sprung. 1984 wechselte Fülle als Lehrer im Hochschuldienst an die DHfK und bildete speziell «Trainer für den Leistungssport» aus.

«So eine Trainerausbildung gibt es heute nicht mehr. Das wird noch fatale Folgen haben», ist sich Fülle1 sicher. In den Zeiten der Wende hatte er frühzeitig das Gefühl, dass die DHfK «den Bach runter geht». Er orientierte sich deshalb nach Westen. 1991 nahm er dann ein Angebot des Bayerischen Turn-Verbandes (BTV) als Landestrainer in München an. Dort ist der Vater von vier Kindern im Alter von 30 bis 39 Jahren bis heute. Seine Frau blieb damals aus beruflichen Gründen in Leipzig. Heute lebt er «als Single» in München. «Ich bin ein unverbesserlicher leistungsorientierter Mensch im Sport», for muliert der kleine, schmächtige Mann seinen Standort. «Mich stört, dass im Tur nen hier in München das System fehlt. Das ist alles zu laienhaft», bemängelt Fülle. Er vermisst «eine einheitliche fachliche und organisatorische Leitung», die mit Kontrollen und Vorgaben ihre Ziele von oben nach unten durchsetzt. «Ich hatte leider nie eine Chance», klingt Siegfried Fülles Bilanz negativ. Er konnte in einem durchaus modernen Turn-Zentrum «nie zielgerichtete Aufbauarbeit von jungen Talenten» betreiben, also seine Fähigkeiten zur Geltung bringen, sondern war damit beschäftigt, «die Älteren zu betreuen, die in der Ecke standen». Häufig war es nur «ein besseres Vereinstraining für die Bundesliga» mit Turnern, die längst über ihren Zenit hinaus waren.

Fülle ist jetzt 60 Jahre alt. Zwei Jahre will er noch mitmachen - «wenn bis dahin unsere Jahresverträge mangels Geld vom BTV überhaupt noch verlängert werden» - in einem «System, bei dem jeder rumwurschtelt» und die ehrenamtliche BTV- Führung als «Vorgesetzte des Leistungstrainings» offenbar überfordert ist. Danach steht die Rente an. Für ihn steht fest, dass «im Spitzensport in Deutschland früher oder später nur noch fünf, sechs Sportarten auf hohem Niveau überleben werden. Das Turnen wird nicht dazu gehören.» Bereits jetzt lebe man, so Fülle, eindeutig von der Substanz, wie die Sydney-Riege zeigen wird: «Wir profitieren vom Talent und Ehrgeiz des 30-jährigen Wecker sowie von der einstigen sowjetischen Turnschule.»

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