Wurde die Estonia doch versenkt?
Neue Taucherexpedition nährt alte Gerüchte - Schwedens Regierung wartet ab Von Richard Claus
Als die »One Eagle« über dem Wrack der »Estonia« vor Anker ging, lauerten die Bewacher auf Rufweite. Jede Bewegung an Bord des Taucher schiffes wurde registriert. Immerhin könnte es ja sein, dass die jüngste Expedition zum Fährschiff, das seit sechs Jahren in 85 Metern Tiefe liegt, Interessantes an die Oberfläche bringt.
In Finnland hält man die ganze Expedition für ein ausgemachtes Medien-Spek takel. Schweden jedoch schließt nicht mehr aus, dass die Untersuchungen zur Unglücksursache wieder aufgenommen werden. Noch in dieser Woche, so kündigte Ministerpräsident Göran Persson an, werde er mit allen im Reichstag vertretenen Parteien über Konsequenzen beraten. Die hängen wesentlich von der Auswer tung jener Videoaufnahmen ab, die die Expedition vorlegen will.
Die Bereitschaft zur Kooperation ver wundert. Schließlich hatte die schwedische Regierung nichts unversucht gelassen, um das Taucherteam des US-Millionärs Gregg Bemis von seinem Vorhaben abzubringen. Nachdem das Argument »Störung der Totenruhe« wenig Wirkung hatte - unter anderem, weil die »Estonia« in internationalen Gewässern liegt, - ließ man durchblicken, dass die schwedischen Wachschiffe eisgängig seien, also einen verstärkten Bug hätten. Was bei einer möglichen Kollision mit der »One Eagle« böse Schäden hervorrufen könnte.
Dass man sich nun auf moderate Beobachtung beschränkt, ist auch der Anwesenheit eines Fernsehteams geschuldet. Dessen Chefin Jutta Rabe, die seit Jahren den »Fall >Estonia<« hin und her wendet, ist die eigentliche Initiatorin der neuen Vor-Ort-Recherchen. Sie hatte den 72-jährigen Bemins im Mai am Rande einer Stockholmer Expertentagung für neue Tauchgänge gewonnen. Videoaufnahmen, die Bemins Unterwasser-Experten nun mitbrachten, zeigen angeblich nicht nur, dass - entgegen den Behauptung der schwedischen, finnischen und estnischen Regierungen - ertrunkene Passagiere auch außerhalb des Wracks liegen. Die Sequenzen zeigen außerdem eine dunkle Linie an der Steuerbordseite des Schiffes. Die lasse auf eine Deformation schließen. Unnatürliche Ausspülungen deuten darauf hin, dass jemand versucht habe, ein
Die »Estonia« sank am 28. 9.1994 auf der Fahrt von Tallinn nach Stockholm. 137 Passagiere konnten sich retten, 852 kamen um. Offizielle Ursache: Konstruktions- und Wartungsmängel.
sorgfältig ausgewertet. Insgesamt 30 Stunden. 29 Stunden plus 59 Minuten und 20 Sekunden waren unergiebig. Auf einem 40 Sekunden langen Stück jedoch hat er ein 60 mal 20 Zentimeter großes Paket am Rumpf des Schiffes entdeckt. Das zudem nach Ansicht von Sprengmeistern mit Zündkabeln und Zündkapsel versehen war. Wenn es einen Bombenblindgänger - so die Theorie - gibt, gab es sicher auch Ladungen, die ihren Zweck erfüllten.
Die offizielle Reaktion der mehrstaatlichen Havariekommission kam prompt: Die Bombe sei nichts weiter als eine Mülltüte. Abgesehen davon, dass sich die Bombentheorie natürlich medial gut ver markten lässt, ist die Havariekommission als Autorität wenig akzeptiert. Nicht nur einmal verließen Mitglieder das Gremium, weil nach ihrer Ansicht zu viel vertuscht wurde. Und warum das so genannte Atlantikschloss, das wichtigste Beweisstück für die offiziell verkündete Unglücksursache »Materialermüdung«, nach der Ber gung wieder in die Ostsee geworfen wur de, wird ein ewiges Geheimnis bleiben. Börje Stenström, das Mitglied der Havariekommission, der so leicht- oder umsichtig gearbeitet hat, ist tot.
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