Schuldige und unschuldige Wende-Opfer

Historiker über politisch motivierte Selbsttötungen / Keine verlässliche Statistik

  • Michael Bartsch, Dresden
  • Lesedauer: 3 Min.
Selbstmorde nach der Wende 1989 in der DDR waren Thema einer Debatte im Dresdner Kulturkaufhaus.
Ein untergehendes System nimmt seine fanatischen oder irregeleiteten Anhänger oft mit in den Abgrund. Filme wie »Der Untergang« oder der »Dresden«-Zweiteiler im ZDF haben noch einmal illustriert, wie zum Kriegsende neben dem sinnlosen Morden auch die Selbsttötungen standen. Die Kerzenrevolution von 1989 ist mit diesen Dimensionen nur bedingt vergleichbar. Und doch hat der letzte DDR-Innenminister Peter-Michael Diestel vor sechs Jahren die Nachwende-Suizide in einem ND-Interview thematisiert. »Das Stasi-Syndrom forderte inzwischen mehr Todesopfer als die Mauer«, behauptete er. Sachsens Stasi-Landesbeauftragter Michael Beleites bezog sich auf diese Provokation Diestels, als er am Donnerstagabend mit dem Historiker Udo Grashoff einen Experten zu diesem Thema ins Dresdner Kulturrathaus einlud. Der 1966 in Halle geborene Grashoff befasst sich in seiner Dissertation mit Suiziden in der DDR und in den ersten Jahren nach der Wende. Die von ihm angeführten Beispielfälle zeigen, dass die politisch motivierten Selbsttötungen damals sehr differenziert betrachtet werden müssen. Die Dresdner werden dem Stasi-General Horst Böhm kaum nachtrauern, der sich Ende 1989 erschoss. Andere Systemträger wie die ehemalige stellvertretende FDGB-Vorsitzende Johanna Töpfer oder DTSB-Vizepräsident Franz Rydz resignierten vor der Last der Verantwortung. Vor allem mittlere SED-Funktionäre auf Kreisebene fühlten sich zwischen dem Druck der Partei von oben und den rebellierenden Bürgern an der Basis allein gelassen. Anders liegen die Fälle bei angeblichen oder tatsächlichen Informellen Mitarbeitern des MfS. Grashoff sprach zwar nicht wie Diestel von einer »Stasi-Hysterie«, wohl aber von »tragischen Fällen«. Über die Zuträgerrolle des ehemaligen Jenaer Professors Gerhard Riege beispielsweise wurde in der Diskussion dieses Abends erneut Widersprüchliches behauptet. In der PDS ist er jedenfalls schon fast zu einem Märtyrer geworden. Zu spät als Irrtum erkannt wurden IM-Vorwürfe gegen Reinhard Naumann, Pfarrer in Schmalkalden, oder den bekannten Arzt und Wende-Aktivisten Eckard Ulrich aus Halle, dessen Grabrede Friedrich Schorlemmer hielt. Vom Freitod des ehemaligen sächsischen CDU-Landtagsabgeordneten Her-bert Schicke schien der Autor gar nichts zu wissen. Anders als Schorlemmer 1993 schloss Grashoff nicht, dass deshalb die MfS-Akten in einem »Freudenfeuer« verbrannt werden sollten. Er plädierte vielmehr dafür, sie genauestens zu lesen und differenziert auszuwerten, bevor Vorwürfe erhoben werden. Diestels Vergleich mit den bei der Wahrnahme eines Menschenrechts getöteten Maueropfern bezeichnete der Autor substanziell als »ungeheuerlich«. Dessen unterstellte Zahlenangaben konnte er jedoch mangels verlässlicher Statistiken oder Recherchen nicht widerlegen. Hier enttäuschte Grashoff mit vagen Vermutungen von Dunkelziffern und blieb hinter dem angekündigten Thema zurück. Diestel wollte allein im Bereich seiner Anwaltskanzlei von 30 Selbstmordfällen infolge des Systemwechsels erfahren haben und hatte so auf eine hohe Gesamtzahl geschlossen. Aufschlussreich, wenn auch nicht neu, blieb die Einordnung dieser tragischen Begleiterscheinungen des Umbruchs in historische Zusammenhänge. So ist es ein seit dem 19. Jahrhundert belegbares Phänomen, dass die Selbsttötungsrate in protestan-tisch gefärbten Regionen Deutschlands deutlich höher liegt als in katholischen. Auffällige Anstiege gab es mit der Judenverfolgung unter den Nazis oder unter Männern mit der einsetzenden Massenarbeitslosigkeit nach 1990.

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