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  • Politik
  • Zufällige Gründungsdaten - vom 18. Januar zum 3. Oktober

Preußens deutscher Beruf und die Berufung der Urenkel

  • Lesedauer: 6 Min.

Von Jörg Roesler

Der 18. Januar 1871, die »Kaiserproklamation von Versailles« gilt allgemein als das Gründungsdatum des Deutschen Reiches. Der 18. Januar 1871 war gleichzeitig der 170. Tag der Krönung des brandenburgischen Kur fürsten zum König von Preußen. In den Geschichtsbüchern des Kaiserreichs wur de dies immer wieder zum Anlass genommen, auf »Preußens deutschen Beruf« hinzuweisen, der sich an diesem Tag so wunderbar erfüllt habe. Keine Erwähnung fand, dass die »nationale Mission Preußens«, die die Leistungen der Preußenkönige seit Friedrich II. als Schritte auf dem Wege zur 1871 vollzogenen Reichseinigung interpretierte, ein Produkt der vor allem durch Johann Gustav Droysen, Heinrich von Treitschke und Heinrich von Sybel repräsentierten kleindeutschen Geschichtsschreibung war.

Als Bismarck im September 1870 ernsthaft mit den süddeutschen Staaten über die Reichseinigung zu verhandeln begann, hatte er keineswegs den 18. Januar 1871 als krönenden Abschluss für das Einigungswerk im Auge. Wohl aber wusste er genau, warum er im September seinen Vertrauten, den Kanzleramtspräsidenten Rudolph Delbrück, nach München schickte. Am 2./3. September 1870 war im Krieg gegen Napoleon der über wältigende Sieg bei Sedan errungen wor den. Die schon nach den ersten militärischen Erfolgen im August im Norden wie im Süden Deutschlands rasch zunehmenden patriotischen Kundgebungen, auf denen die Forderung nach der deutschen Einheit immer lauter wurde, hatte nach Sedan einen neuen Höhepunkt erreicht. Bismarck wusste genau, dass die Regierungen der süddeutschen Staaten, die - bis auf Baden - dem vom Kanzler gefor derten Beitritt nach Paragraph 79 der Verfassung des von Preußen dominierten Norddeutschen Bundes skeptisch bis ablehnend gegenüber standen, sich öffentlich der neuen Reichsidee nicht würden widersetzen können. Wann diese am 22. September begonnenen Verhandlungen aber abgeschlossen sein würden, das wagte Bismarck nicht vorauszusagen. Tatsächlich bedurfte es zweier Verhandlungsrunden, einer in München im September und einer zweiten in Versailles im November, ehe Regierungen und Herr scher aller süddeutschen Staaten dem Beitritt zum zweiten deutschen Kaiser reich zugestimmt hatten. Im Dezember 1870 ratifizierten auch die Parlamente der beteiligten Staaten (mit über Zweidrittelmehrheit) die Beitrittsabkommen.

Der Neujahrstag 1871 wurde von Bismarck zum Termin bestimmt, an dem die Verträge in Kraft treten und die Kaiser Proklamation in Versailles vollzogen wer den sollte. Doch dann gefährdeten die Abgeordneten des bayerischen Parlaments den Terminplan durch endlose Debatten und unsichere Mehrheiten. Bei der Suche nach einem neuen Vereinigungsdatum stieß Bismarck auf den 18. Januar 1871 als geeigneten Ersatz. Doch wegen Bayern musste weiter gebangt werden. Nachdem die erste Kammer am 30. Dezember den Vertrag mit dem Norddeutschen Bund mit ausreichender Mehrheit gebilligt hatte, machte nun die zweite Kammer Schwierigkeiten. Als abzusehen war, dass die bayerische Zustimmung auch zum 18. Januar nicht vorliegen würde, entschloss sich Bismarck in Ermangelung anderer symbolträchtiger Daten im gleichen oder im Folgemonat, auf jeden Fall an der Kaiserproklamation am 18. Januar festzuhalten. Die dann letztlich zustande gekommene Zustimmung der zweiten bayerischen Kammer am 21. Januar ging im Jubel der Medien über die Verkündung der deutschen Einheit im Spiegelsaal von Versailles unter. Mit den bayerischen Abstimmungsergebnis hätte man allerdings auch keinen Staat machen können. Die Mehrheit betrug zwei Stimmen und das auch erst, nachdem einige Abgeordnete der Opposition umgefallen waren.

Der 3. Oktober 1990 war ebenfalls mehr ein Zufallstag am Ende eines Vereinigungsprozesses. Dieser war durch einen Beschluss des Bundeskabinetts vom 6. Februar 1990 eingeleitet worden, »mit der DDR unverzüglich in Verhandlungen über eine Währungsunion mit Wirtschaftsreformen einzutreten - natürlich, wenn die DDR dies will«. Die DDR wollte diesen Auftakt zu einer Vereinigung, die zum Anschluss geraten musste aller dings erst, nachdem die »Allianz für Deutschland« am 18. März einen über wältigenden Wahlsieg errungen hatte.

Wenn 1870 für Bismarck die Instrumentalisierung des Jubels auf der Straße zum Sieg von Sedan herhalten musste, um die zögernden Regierungen der süddeutschen Staaten zum Anschluss an den Norddeutschen Bund zu bewegen, so brachte 1990 das an eine Währungsunion gebundene Wohlstandsversprechen der Bundesregierung, Helmut Kohls »Signal für unsere Landsleute in der DDR«, die notwendigen Wählermassen zusammen, um eine DDR-Regierung zustande zu bringen, die zum Beitritt zur Bundesrepublik gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes bereit war. Doch wenn Lothar de Maiziere in seiner Regierungserklärung vom

19 April auch forderte »die Einheit muss so schnell wie möglich kommen«, so hatte er keinen konkreten Termin gesetzt, schon gar nicht für das Jahr 1990, denn er wollte die auszuhandelnden Rahmenbedingungen für die Einheit »so gut, so ver nünftig, so zukunftsfähig wie nötig«.

Der kleine CSU-Ableger DSU brachte beinahe alles durcheinander, als seine Abgeordneten am 17 Juni in der Volkskammer über die Vereinigung mit der Bundesrepublik abstimmen lassen wollten, und zwar »mit dem heutigen Tage«. Doch zu diesem Zeitpunkt war auch die Bundesregierung noch nicht zum Vollzug der Einheit bereit. Zwar war der Vertrag über die Währungsunion so gut wie unter Dach und Fach, aber die Vorstellungen zur politischen Einheit zwischen den Ressorts der Bundesministerien waren noch nicht abgestimmt und die beträchtlichen Bedenken der SPD im Bund und den von ihnen regierten Ländern noch nicht ausgeräumt.

Die Abstimmungsrunden zogen sich bis zum August hin und beschäftigten den »Einheitsunterhändler«, Kohls Vertrauten Wolfgang Schäuble, offensichtlich mehr, als seine Zusammenkünfte mit dem offiziellen Verhandlungspartner der DDR, Günther Krause, von dem Schäuble sagte, dass er »nie den Drang verspüren ließ, ir gend etwas aus der alten DDR in das neue Deutschland retten zu wollen«. Noch immer eine Frist von mehreren Monaten vor dem geistigen Auge, erfuhr Schäuble Mitte August, dass de Maiziere, angesichts der verheerenden Auswirkungen der Währungsunion auf die DDR-Wirtschaft zu Kohl an den Wolfgangsee gefahren war und verlangte, den Vollzug der Einheit auf den 14. Oktober, der als Tag der Landtagswahlen im Gespräch war, vorzuverlegen. Am 23. August wurde als endgültiger Beitrittstermin der 3. Oktober bekannt.

Warum der Beschluss der Volkskammer, mit dem das Tauziehen um den Beitrittstermin beendet wurde, gerade auf dieses Datum fiel, ist nicht ganz nachvollziehbar. Anders als bei der Reichseinigung

Kaiserproklamation im Spiegelsaal von Versailles

Auf der Estrade der vormals preußische König und nunmehrige deutsche Kaiser Wilhelm, umgeben von seinen Fürsten; Bismarck (vor dem hinteren Leibgardisten) hat gerade die Proklamationsurkunde verlesen

Die deutsche Reichsgründung an einem nationalen Identifikationsort der Franzosen wurde von der Grande Nation als tiefe Demütigung empfunden

Abb. aus: Stölzl (Hg.), »Deutsche Geschichte in Bildern«

1871 war die Ratifizierung des Einigungsvertrages in den Parlamenten, so Schäuble 1991 rückblickend, »eigentlich nur noch eine Formsache«. Am 20 September hatte der Einigungsvertrag die parlamentarische Hürde einer Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Volkskammer (gegen die Stimmen von PDS und Grünen) im ersten Anlauf genommen. Die Zustimmung des Bundesrates kam am 23. September einstimmig zustande. Am 29 September trat der Vertrag in Kraft.

Geschichtsträchtig wie der 18. Januar 1871 war der 3. Oktober jedenfalls nicht. Wahrscheinlich war der Wunsch einer Mehrheit in den ost- und westdeutschen Parlamenten und Regierungen oder auch nur das Bestreben des »Kanzlers der Einheit«, auf jeden Fall einen 41. Jahrestag der DDR zu vermeiden, für die Wahl des später zum offiziellen »Tag der Einheit« hochstilisierten Datums ausschlaggebend.

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