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  • Politik
  • Multikulturalismus als Ideologie und Utopie

Porträt eines Doppelgesichts

  • Dr. Gerhard Schweppenhäuser
  • Lesedauer: 6 Min.

Ein idiotischer Ausdruck macht die Runde - »deutsche Leitkultur«. Keiner weiß, was er genau bedeutet, aber klar ist, es handelt sich um eine weichgespülte Variante von »Ausländer raus«. An der Parteispitze des Regierungs-Juniorpartners nimmt man das zum Anlass, eine Debatte über den Multikulturalismus zu beginnen - und sich allmählich von dieser Lieblingsidee der Alternativbewegung zu verabschieden.

Da wirft einer von rechts mit Nebelbomben, und schon lässt sich die Linke ohne Not eine Debatte aufzwingen? Aber so einfach ist das nicht. Erstens natürlich,

Der Mensch neben dir -plötzlich ist er ein Menetekel geworden, eine Bedrohung wider dich selbst; der Spiegel, indem du erkennst, wie erniedrigend es um dich bestellt ist. Und du erhebst die Faust und zerschlägst den Spiegel, und da ist es wieder ein fremdes menschliches Gesicht ... (Philip Roth)

Foto: Robert Michel

weil im Zusammenhang mit den Grünen ja kaum noch von »der Linken« die Rede sein kann. Und zweitens, was viel wichtiger ist: Es gibt in der Tat gute Gründe, kritisch über das Multikulti-Konzept nachzudenken. Wenn Daniel Cohn-Bendit for dert, seine Partei müsse eigentlich für ein »Ministerium für multikulturelle Angelegenheiten« in Deutschland kämpfen, dann ist das sympathisch und integer. Aber es ist andererseits richtig, wenn Reinhard Bütikofer und Renate Künast zugeben, wie vage und beliebig die Formel vom Multikulturalismus in ihren Reihen bis heute geblieben ist. Aber muss man das Konzept deshalb gleich wegwerfen? Im politischen Diskurs Europas tauchte die Rede von der »multikulturellen Gesellschaft« zuerst in den achtziger Jahren auf - von Anfang an in ambivalenter Verwendung. Grüne und Alternativbewegungen benutzten sie als positives Leitbild (»offene Grenzen«), Konservative als Angstfor mel (»Überfremdung, Durchrassung und Durchmischung«). Nach dem Kollaps des Ostblocks machte das Schlagwort dann eine steile Karriere. »Multikulti« wurde zum postmodernen Label einer »Vielvölkergesellschaft« (Leggewie) im Zeitalter der »großen Wanderung« (Enzensberger). Im Begriff der multikulturellen Gesellschaft, schrieb Alfons Söllner, changierten von Anfang an politische Romantik und soziologische Aufklärung.

Auch aus Sicht der Philosophie hat die Rede vom Multikulturalismus ein Doppelgesicht. Das Wort schillert zwischen Beschreibung und Bewertung. Es erscheint sinnvoll, dann von Multikulturalität zu sprechen, wenn deskriptiv geredet wird, und nur dann von Multikulturalismus, wenn der Begriff normativ verwendet wird. Das Schwanken stammt allerdings nicht nur aus ungenauer Redeweise. Es hat auch einen Grund in der Sache. Seit Jahrzehnten findet ein Prozess der Aufweichung überlieferter Lebensformen, Sitten und Bräuche statt. Grenzen fallen, die (gewaltsame und konsensuelle) Etablierung des Weltmarktes erzwingt weltweite Migrationen.

Wenn hier überhaupt irgendeine kulturelle Figuratiön so etwas wie die leitende Rolle spielt, dann allenfalls die Kultur des Warentauschs. Sie ersetzt Gemeinschaftsbindungen durch abstrakte und rechtsförmige Vertrags-Beziehungen unter Fremden; sie setzt ökonomischen Tausch- Wert an die Stelle von kulturellen und moralischen Wertvorstellungen und Leitbildern, die durch Traditionen gestiftet wur den. In der Soziologie spricht man vom modernen Übergang aus »normativer Integration« in »funktionale Differenzierung«. Da kommt es gar nicht darauf an, ob eine multikulturelle Gesellschaft gewünscht oder abgelehnt wird denn sie ist bereits dabei, Wirklichkeit zu werden.

Aber was ist diese Wirklichkeit? Die Vielfalt von Kulturen im Rahmen einer neuen »Weltgesellschaft«? Oder die Auslöschung der Differenzen? Im letzteren Fall wäre Multikulturalismus ein Deck name für die Herstellung einer globalen Einheitskultur. Ist Multikulturalismus die Mannigfaltigkeit von gleichberechtigten und gleichwertigen Kulturen, die freilich nicht zu einem harmonischen Miteinander zu bringen sind? Oder ist Multikulturalität die Vielfalt der Erscheinungsfor men einer Kultur der Menschheit?

Mit anderen Worten: Führt das Votum der Gutmenschen für den Multikulturalismus zu einer kulturrelativistischen Position - oder lässt sich auch eine Position formulieren, die den Begriff der menschheitlichen Kultur, den zuerst die europäische Aufklärung formulierte, in kritischer Absicht aufbewahrt, als normative Zielvorstellung, als regulative Idee?

Das Konzept des Multikulturalismus ist ambivalent. Man kann diese Zweideutigkeit mit einem Begriffspaar erläutern, das von Karl Mannheim stammt. Er unter schied zwischen Ideologien und Utopien. Beides sind Formen des Bewusstseins, die nicht deckungsgleich mit dem sozialen Sein sind. Sie transzendieren die bestehende Ordnung und geben Orientierungspunkte für das Handeln an. Der Unter schied: Ideologien haben die Tendenz, das Bestehende zu stabilisieren, während Utopien es auflösen. Ideologien verdecken

die brüchig gewordene Wirklichkeit und verhindern ihre Veränderung; Utopien sprengen sie und legen den Grund für Neues. Ideologien sind im Grunde nie zu verwirklichen, wie etwa das christliche Postulat der Nächstenliebe. Utopien dagegen transformieren bestehende Ordnungen, wie es etwa der bürgerlich-revolutionäre Freiheitsgedanke tut.

Multikulturalität ist nun zunächst bloß das Ergebnis der gesellschaftlichen Gesamttendenz. Sie könnte aber auch Er gebnis einer Besinnung sein: auf das, was in der Menschheit angelegt ist und realisiert werden könnte, wenn wir selbstreflektiert und autonom handeln würden. Im diffusen Begriff des Multikulturalismus steckt mithin zweierlei: die modische, ideologische Werbung für einen Trend, der sich ohnehin durchsetzt, und der utopische Verweis auf etwas, das zur Humanität gehört und sich bloßen Trends sperrt. Wo sich heute multikulturelle Gesellschaften zu etablieren beginnen, wird aber zugleich das verneint, was in dieser utopischen Vorstellung der multikulturellen Gesellschaft steckt. Die Kulturindustrien haben sich weltweit als hegemoniale Kultur etabliert. Die Einheitskultur der warenproduzierenden Welt-Gesellschaft ist die warenästhetische Beliebigkeit, in der alles erlaubt ist, sofern es einem zahlungskräftigen Bedürfnis entspricht. Dabei geht die kontrafaktische Vorstellung von einem wirklichen Pluralismus aus eigen-sinnigen und selbstbestimmten kulturellen Lebensformen unter.

Nachdem »das Vertrauen der westlichen Kultur in sich selbst« (Jürgen Habermas) in die Krise geraten ist, wird Multikulturalität beschworen. Das, was Immanuel Kant noch als Substanz von Kultur begriff, gerät dabei aus dem Blick, die Selbst-Kultivierung und Moralisierung der Menschheit, die vernünftige Zielbestimmung gesellschaftlichen Handelns aller selbstbestimmten Subjekte. Kultur als regulative Idee scheint heute diskreditiert, denn sie lebt vom Unterscheiden und Bewerten. Das verträgt sich nicht mit, kultur-relativistischer Beliebigkeit.

Mehr noch: In der »Weltkultur« selbst steckt auch ihre virtuelle Selbstzerstörung. Denn die Neutralisierung des Kulturbegriffs, der alles gleich gilt, und die »globale Kulturindustrie« (Scott Lash) ebnen die Differenz ein, die Kultur vom entfremdeten Reproduktionsprozess der Gesellschaft immer auch getrennt hatte.

Wenn man sich mit der zufälligen, bestehenden Form multikultureller Gesellschaften und ihrer Ideologie begnügt, ver kennt man, dass beides etwas Fremdbestimmtes ist. Davon wäre das Konzept multikultureller Gesellschaften als Utopie abzugrenzen. Diese Utopie bezieht ihre Kraft auch aus Kants aufklärerischer Idee der Weltgesellschaft. Die bürgerliche Gesellschaft westlicher Prägung, die Republik, schreibt individuelle Menschenrechte fest. Ihre Basis ist der Nationalstaat. Insofern ist sie ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Weltbürgergesellschaft - aber eben auch nur ein Schritt. Sie ist nicht schon der vernünftig begründbare, wünschbare Zustand menschlicher Zivilisiertheit und Kultur, sondern eine Etappe.

Das wäre eine normative Basis, die wir brauchen, wenn wir reaktionäre Angriffe auf die westliche Liberalität in den mehr oder weniger multikulturellen Gesellschaften kritisieren wollen. Das Plädoyer für »mehr Buntheit« (Odo Marquard) genügt da nicht. Eine Toleranz, die alles gelten lässt und der Illusion Vorschub leistet, die verschiedenen Lebensstile würden friedlich miteinander auskommen, ist den Herausforderungen nicht gewachsen, die vor-aufklärerische Formen von Religion und Recht, traditionalistische Weltbilder oder inhumane Sitten und Gebräuche darstellen. Selbstbestimmte, kritische Praxis braucht die Zielvorstellung einer solidarischen Gesellschaft, in der kulturelle Differenz und Anerkennung des Anderen die Standards sind.

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