»Der ist nur ein Rabauke«
Bei einem »geistigen Anführer« der Neonazi-Szene blendet die Staatsanwaltschaft im niedersächsischen Stade konsequent politische Motivation aus - bislang mit Erfolg
Haus wohnte, mit einer Schusswaffe.
Als es ein Jahr später zum Prozess kam, war von der Waffe überhaupt keine Rede mehr, und die fünf Angeklagten gaben sich als Unschuldslämmer, die sich in Bierlaune zum Überfall entschlossen hätten. Lars Hildebrandt gerierte sich als Aussteiger, der seinen rechten Freunden inzwischen den Rücken gekehrt habe. Den Rücken, auf dem er ein tätowiertes Hakenkreuz trägt. Hildebrandt und drei weitere Angeklagte waren NPD-Mitglieder. Das und die Vorgeschichte der »Kutenholzer Bomber« hätte genügen können, um an der Spontan-Version zu zweifeln. Doch die Staatsanwaltschaft nahm keine Kenntnis davon. Ob versuchter Totschlag in Frage kam, wurde nicht untersucht, Landfriedensbruch nicht angeklagt. Dass Hildebrandt kurz vor dem Überfall an der Asylbewerberunterkunft Scheiben zer schlagen oder sogar zerschossen hatte, blieb unbeachtet. Während seine Mitangeklagten mit Bewährungsstrafen davon kamen, erhielt Hildebrandt als Rädelsführer 18 Monate Haft. Zehn Tage nach dem Prozess wurde er selbst Opfer und in einem Jugendzentrum niedergeschlagen. Sein Jochbein brach, weshalb er seither eine Metallplatte unter dem linken Auge trägt. Gerüchte, wonach es sich dabei um eine Abreibung gehandelt hat, weil er sich im Prozess in der Hoffnung auf eine mildere Strafe von seinen Gesinnungsgenossen abkehrte, wurden durch die oberflächlichen Ermittlungen der Staatsanwaltschaft nicht entkräftet.
Im Verfahren Anfang März machten die Zeugen verworrene Aussagen oder haben gelogen. Hildebrandt behauptete, sich an nichts erinnern zu können. Weder an den Schläger, noch daran, wer zugegen war. Ende März kam der angeblich Bekehrte, der in der Haft antisemitische Schriften verfasste, als Angeklagter erneut vor Gericht. Im Februar 2000 war ein 28-jähriger Türke übers Internet zu einer Skinhead-Party in Neuenkirchen gelockt wor den. Er wurde erheblich verletzt und er konnte nur knapp entkommen.
Wieder ermittelje die Staatsanwaltschaft den Vorfall nicht zu Ende. Offenbar war der Türke als Attraktion der Party vorgesehen. Sollte er nur Prügel beziehen? Der Prozess vor dem Stader Amtsgericht ließ alle Fragen offen. Lars Hildebrandt wollte dem Richter weismachen, er habe dem Türken geraten, zu verschwinden, und ihm, »um dieser Forderung Nachdruck zu verleihen«, eine Ohrfeige gegeben. Er habe das Opfer »schützen wollen«, sekundierte sein Anwalt und beantragte die Einstellung des Verfahrens.
Ein Mitangeklagter, ebenfalls einschlägig vorbestrafter 23-Jähriger gestand immerhin, den Türken getreten zu haben, zusammen mit einem bereits im vorigen Sommer zu Jugendarrest verurteilten 18- Jährigen. Der machte als Zeuge kein Hehl daraus, dass es ihm Spaß gemacht hatte, den Ausländer zu verprügeln. Ob eine Verabredung zu der Tat vorlag, hatte die Staatsanwaltschaft nicht erkundet. So wurden zwar der 23-Jährige und der 18- Jährige wegen gemeinschaftlicher, Hildebrandt jedoch wegen einfacher Körper Verletzung verurteilt. Als handele es sich bei den Schlägen um voneinander unabhängige Taten. Anders als der Staatsanwalt, der nicht einmal wusste, wofür Hildebrandt im Gefängnis sitzt, erwies sich der Richter insofern als verständig, als er hervorhob, dass der Türke, umgeben von Feinden, Todesängste ausgestanden hatte. Hildebrandt wurde zu zehn Monaten Haft verurteilt. Was, wenn der Türke nicht, wie die Kutenholzer Asylbewerber, rechtzeitig entkommen wäre? Ideologie ist nicht strafbar, aber ein Tatvorsatz strafverschärfend. Wenn wie in Stade eine überforderte oder unwillige Staatsanwaltschaft über Jahre hinweg den politischen Hintergrund von Straftaten ausblendet, ist nicht verwunderlich, dass Jugendliche beginnen, ihren dumpfen Ausländerhass für eine akzeptierte Gesinnung zu halten.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.