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Totalverweigerer nun doch verurteilt

500 Mark Ordnungsstrafen für Zuhörer Von Volker Stahl, Hamburg

  • Lesedauer: 3 Min.

Ende letzter Woche verurteilte das Landgericht Hamburg den Studenten Jan Reher wegen »Dienstflucht« zu einer Haftstrafe von sechs Monaten auf Bewährung. Die Vorinstanz hatte den Gewissenstäter freigesprochen. Urteile gegen Totalverweigerer fallen hier zu Lande höchst unterschiedlich aus. »Von der Einstellung des Verfahrens gegen Geldbuße bis zu einer Haftstrafe von zwölf Monaten ohne Bewährung ist alles drin«, so Pastor Ulrich Finckh von der Bremer Zentralstelle für Recht und Schutz der Kriegsdienstverweigerer. In den meisten Fällen würden drei bis sechs Monate auf Bewährung verhängt. »Das Strafmaß hängt oft von den Vorurteilen der Richter ab«, weiß Finckh aus jahrelanger Erfahrung.

»Ein gehobenes Mittelmaß.« So kommentierte Jan Reher, Mitglied der zehnköpfigen Totalverweigerer-Gruppe »Desertöre«, das Urteil von Richter Michael Kaut am Ende des dritten Verhandlungstages. Einerseits zeigte sich der 23-Jährige über die »ziemlich glimpfliche« Strafe erleichtert, andererseits habe er nach dem sensationellen Freispruch vor dem Hamburger Amtsgericht »höhere Ansprüche« gehegt. Kauts Kollege Ulf Panzer hatte dem Zivildienstgegner im November vergangenen Jahres noch attestiert, auf Grund einer Gewissensentscheidung »nicht schuldhaft gehandelt« zu haben und unter Berufung auf die im Grundgesetz verbriefte Menschenwürde (Artikel 1) und Gewissensfreiheit (Artikel 4) freigesprochen. Panzers Begründung: »Eine Verurteilung zu einer Strafe bei diesem Angeklagten, der sich auf Grundlage seines persönlichen Wissens zur Verweigerung auch des zivilen Ersatzdienstes entschlossen hat, würde sich als Missachtung seiner individuellen Würde darstellen.« Der Hamburger Richter Kaut sah das anders. Er vertrat den Standpunkt, dass es kein Recht gebe, »den Zivildienst aus Gewissensgründen zu verweigern«. Er empfahl Reher daher, Verfassungsbeschwerde gegen sein Urteil einzulegen.

Jan Reher war in Justitias Mühlen geraten, weil er nach seiner Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer seinen Dienst in einem Altenheim nicht antrat. Der Student der Ingenieurwissenschaften er klärte vor Gericht, er lehne den Zivildienst als »integralen Bestandteil der umfassenden militärischen Planung« ab. Fakt ist: Nach Paragraf 79 des Zivildienstgesetzes können Zivildienst leistende Wehrpflichtige im Verteidigungsfall unbefristet einberufen werden und sind überdies in das militärische Konzept der Gesamtverteidigung einbezogen. Reher betonte, auch keinen »indirekten Beitrag zum Töten« leisten zu wollen.

Weil sich schon während des Prozesses angekündigte, dass der Richter dieser Ar gumentation nicht folgen würde, weiger ten sich vier Sympathisanten von Reher zur Urteilsverkündung aufzustehen. Kaut verhängte daraufhin Ordnungsgelder in Höhe von je 500 Mark, was Rehers Verteidiger mit harschen Worten kritisierte: »Das ist völlig unverhältnismäßig.«

Wehrpflichtgegner haben in der Hansestadt Tradition. Von 1986 bis 1994 sorgte die erste Generation der »Desertöre« mit einer Reihe von Aktionen für Aufsehen. Am 1. Oktober 1986 hatten zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik vier Kriegsdienstgegner Bundeswehr und Zivildienst verweigert: Heiko Streck (zehn Monate ohne Bewährung), Frank Deutsch (neun Monate ohne Bewährung), Dirk Wildgruber (2000 Mark Geldstrafe) und Sören Sieg (Verwarnung). Die Pazifisten ließen während einer Bür gerschaftssitzung Flugblätter auf die Köpfe der Abgeordneten segeln, ver hängten das Kriegerdenkmal am Dammtor-Bahnhof mit Transparenten und beanspruchten politisches Asyl bei der Grünen Alternativen Liste. 1994 geriet der heute 41-jährige Heiko Streck als »Hamburgs Dr. Kimble« sogar bundesweit in die Schlagzeilen: Der per Haftbefehl Gesuchte war fünf Jahre auf der Flucht - bis zur Verjährung seiner Haftstrafe.

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