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n– Nordseekrabbe in Mafia-Fängen

Holländische Großunternehmer machen Mini- Garnelen zu Globetrottern Von Annemieke Hendriks

  • Lesedauer: 4 Min.

Das Leben einer niederländischen Nordseekrabbe mag kurz sein. Aber nach ihrem Tod fängt für sie das Leben eigentlich erst richtig an. Da fährt sie auf eine vierzehntägige Urlaubsreise nach Marokko, verweilt dort einige Zeit, wird wieder nach Holland zurückverschifft und darf sich nachher noch drei Wochen im Supermarkt erholen. Letzteres ist ›wohl bekannt: die Haltbarkeit von drei Wochen steht schließlich auf der Verpackung.

Dass aber auch jene Tierchen, die als vermeintlich frisch auf holländischen und bundesdeutschen Märkten verkauft wer den, die gleiche interkontinentale Reisetour hinter sich haben, weiß kaum jemand. Auch nicht, dass sich der Reise noch ein zeitlich kaum nachprüfbares Tiefkühlleben anschließt. Denn vierzig Prozent der Krabben werden im Herbst in der Nordsee gefangen, die Verarbeitung in Marokko wird aber gleichmäßig übers ganze Jahr verteilt.

Zwei Journalisten der anerkannten niederländischen Wochenzeitung «Vrij Nederland» (VR) haben recherchiert, um den Grund für dieses Etappenrennen herauszufinden. Warum muss die «Crangon Crangon», wie die Nordseekrabbe auf Lateinisch heißt, eine mehr als 6000 Kilometer lange Strecke zurücklegen, bis sie in mitteleuropäischen Supermarktregalen landet. Denn die Folgen stimmen traurig: Kaum ein Niederländer weiß noch, wie seine «Garnaal» eigentlich schmecken und riechen sollte. In Deutschland isst man die Nordseedelikatesse ohnehin nur noch mit Cocktail- oder Rahmsoße; da spürt man vom Fisch schon gar nichts mehr. Jedenfalls sollte die Krabbe salzig schmecken statt bitter.

Um ihre Haltbarkeit von den üblichen zwei Tagen auf viele Wochen zu verlängern, werden fast alle niederländischen Krabben, die auch in der Bundesrepublik angeboten werden, dreimal mit Benzoesäure getränkt, ein Bakterien tötendes Mittel, das in diesen hohen Dosen von 0,6- prozentiger Konzentration von der Brüsseler EU-Kommission für kein anderes Lebensmittel zugelassen ist. Dem Fischereibiologen Dick Jongman zufolge, wie ihn die niederländische Wochenzeitung zitiert, ist diese Behandlung äußerst gefährlich: «So kann man überhaupt nicht mehr kontrollieren, welche ekligen Bakterien abgetötet worden sind.»

Zum Vergleich: Asiatische Länder dür fen ihre Exportkrabben lediglich mit 0,2 prozentiger Benzoesäure behandeln. Indonesische Exportfirmen haben sofort gegen diese Ungerechtigkeit protestiert. A- ber das wollte im Westen wohl keiner wahrnehmen. Europäische Politiker hätten sich, so «Vrij Nederland», überzeugen lassen, dass es ohne die Marpkko-Route keine holländischen Krabben mehr gäbe. Denn angeblich bestünde keine Alternative zu der extrem niedrig entlohnten Handarbeit, wie sie massenhaft in Fabriken in Tanger und Tetouan verrichtet wird.

Das stimmt keinesfalls, so die beiden Journalistinnen, Diny Schouten und Elma Verhey. Der Grund für das fast endlose zweite Leben der Krabbe besteht nicht etwa in dem technischen Problem des Krabbenpulens. Denn die Krabbenpulmaschine ist längst erfunden worden, und funktioniert im Prinzip sehr gut. Das er fuhren die VN-Journalisten bei einigen, ganz kleinen, Betrieben in den Niederlanden und der Bundesrepublik. Zum Beispiel im ostfriesischen Neuharlingersiel, wo eine sehr frische Krabbe bearbeitet wird, die noch billiger auf den Markt kommt als die chemisch-frisierten Fernreisekrabben.

Das Problem ist ein anderes: Der uralte holländische Handelsgeist. Zwei Händler, Heiploeg und Puul, beherrschen etwa die ganze Krabbenproduktions- und Handelskette, bis zum Laden. 1975 hatte das Niederländische Wirtschaftliche Institut und das Reichsinstitut für Fischereifor schung schon ein Plädoyer für die Einführung der Pulmaschine gehalten, mit einer «marxistisch-dialektischen Argumentation», wie die Journalisten notieren: Wenn die Fischer selber über Pulmaschinen verfügten, so argumentierten die beiden Organisationen, dann würden sie den «oligopolistischen» Handel gar nicht mehr brauchen und endlich aus der Armut heraus kommen. Dann wären Heiploeg und Puul mit ihren Marokkaner Fabriken überflüssig. Die beiden Großunternehmer haben den Fischern aber mit Krabbenabnahmenverweigerung und anderen Gegenmaßnahmen gedroht, so dass diese sich nicht trauten, gepulte Krabben zu produzieren. Fazit: Bis zum heutigen Tag bestimmen in der niederländischen Krabbenbranche Einschüchterung und neokoloniale Verhältnisse die Praxis. Und dabei kommt noch nicht einmal eine geschmackvolle Nordseekrabbe heraus!

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