Gabriels Legenden

Tom Strohschneider über sozialdemokratische Wahrheiten, die Ausreden des SPD-Chefs und die Sache mit der »Ausschließeritis«

  • Lesedauer: 4 Min.

Sigmar Gabriel ist am Donnerstag in Leipzig vom SPD-Parteitag als Vorsitzender der Sozialdemokraten wiedergewählt worden - obwohl es eigentlich für die Delegierten nichts zu wählen gab. Der Niedersachse war einziger Kandidat, er erhielt knapp 84 Prozent. Um ein bisschen Gegenwind zu den medialen Interpretationen zu erzeugen, die von einer Schlappe Gabriels sprachen, wurden hinterher in SPD-Reihen von einem »ehrlichen Ergebnis« gesprochen.

Mit der Ehrlichkeit des Sozialdemokraten ist es so eine Sache. Als Gabriel 2009 eine politisch ausgezehrte Wahlverlierer-SPD übernahm, blickte der neue Vorsitzende vergleichsweise selbstkritisch auf einen »kontinuierlichen Erosionsprozess des Vertrauens« zurück. Die Sozialdemokraten hatten das eine erzählt und das anderen getan, die angebliche Partei der kleinen Leute jagte diesen zunehmend Angst ein. Wahlversprechen galten oft nur bis zum jeweiligen Sonntag, 18 Uhr. Und das einzige, wovon die Sozialdemokraten reichlich im Angebot hatten, waren Ausreden, warum eine wenigstens progressive Politik dann doch nicht möglich war: die Umstände, die Sachzwänge, die Anderen.

Inzwischen kann Gabriel diese Melodie selbst fehlerfrei pfeifen. Gabriel hat am Donnerstag in Leipzig vor den Delegierten seiner Partei erklärt, er habe in den vergangenen drei Jahren »mit den zeitweise häufig wechselnden Vorsitzenden der Linkspartei immer wieder« den Versuch unternommen, eine Zusammenarbeit mit der SPD anzuschieben. »Immer wieder« Versuche der SPD, mit der Linkspartei ins Gespräch zu kommen? Und welche Partei war das noch einmal, die in den vergangenen Jahren so viele Vorsitzende hatte?

Schon auf dem Landesparteitag der Sozialdemokraten in Berlin vor einigen Tagen hatte Gabriel behauptet, es sei eine »Legende«, dass die Bundes-SPD nicht mit den Linken geredet habe. Und in Leipzig setzte Gabriel nun noch eins drauf: »Dass wir am Ende mit ihnen keine Koalitionsaussage treffen wollten und das in dieser Legislaturperiode auch nicht tun werden, lag nicht an der, wie einige glauben, Ausschließeritis. Das ist eine Legende der Linkspartei.«

Einmal abgesehen davon, dass Andrea Nahles, die dem Vernehmen nach auch noch zur SPD-Spitze gehören soll, gerade erst erklärt hat, »dass wir keine Ausschließeritis mehr wollen«, hält Gabriel das Publikum offenbar für blöd. Wer bitteschön soll das Märchen von der armen SPD glauben, die seit Jahren vergeblich und händeringend, ja: bettelnd versucht, sich der störrischen und jeder rot-roten Offerte aus dem Weg gehenden Linkspartei anzunähern? Und wie war das mit den inhaltlichen Differenzen?

Man fühlt sich beinahe ein wenig peinlich berührt, dass man einen SPD-Vorsitzenden daran erinnern muss, was er und seine Spitzensozialdemokraten in den vergangenen vier Jahren in wirklich jedes Mikrofon gesprochen haben: die Linkspartei sei regierungsunfähig, die Linkspartei sei ein politisches Doppelgebilde, die Linkspartei sei heimlich von Oskar Lafontaine gesteuert, die Linkspartei sei keine richtige demokratische Partei, die Linkspartei sei irre, die Linkspartei habe kein richtiges Programm und so fort. Die Ablehnung der SPD hatte immer eine nicht-politische Basis; es wurde nicht wirklich über programmatische Dinge gesprochen, es wurden Formeln geprägt, die jede weitere Diskussion unmöglich machten. Oder um es mit den Worten von Sigmar Gabriel anno Januar 2012 zu einem Regierungsbündnis mit der Linkspartei zu sagen: »Für mich ist es ausgeschlossen, dass die Sozialdemokraten auf Bundesebene diesen Weg gehen.«

Dass nun das SPD-Urgestein Egon Bahr, der nicht erst in der Ära Gabriel bereit war, mit der Linkspartei zu reden, in Haftung für eine Legende des SPD-Vorsitzenden herhalten muss, macht die Sache nur noch schlimmer. Bahr, der bei aller Kritik an der Linken immer bereit war, über den parteitaktischen Horizont hinauszublicken, bleibt ein sozialdemokratisches Format, das ein Gabriel niemals wird in gleicher Weise ausfüllen können.

Soweit zu Gabriels Legenden. Nun wird die gesellschaftliche Linke aber natürlich auch nicht dadurch stärker oder handlungsfähiger, dass sie die alleinige Verantwortung für alle Blockaden der SPD zuweist und sich auf dem roten Kissen einer verewigten Konfliktlogik gemütlich macht, in der es ausreicht, »Agenda!« zu rufen, um schon als großer Gesellschaftskritiker zu gelten. Einerseits.

Andererseits gibt es auch nicht den geringsten Grund, den Sozialdemokraten durchgehen zu lassen, wenn sie die SPD auf neue Weise und auf Kosten anderer in den Beton politischer Handlungsunfähigkeit einmauern. Es geht ja nicht um Gabriel, sondern um die Frage, was politisch trotz der Begrenzungen parlamentarischer Bündnisse möglich ist. Man darf, ja: man muss hoffen, dass es einen Unterschied gibt zwischen SPD-Spitze und Sozialdemokratie, zwischen dem Vorsitzenden und der Basis, zwischen parteipolitischer Taktik und gesellschaftspolitischer Perspektive. Es wäre auch für die gesellschaftliche Linke nicht gut, wenn das nur eine Legende ist.

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