»Lasst uns länger arbeiten«
Warum eigentlich? Alles hängt an Produktivität und Verteilung - Aufklärung über die Mythen der Rentendebatte in einer neuen nd-Serie
»Lasst uns länger arbeiten«
Was gesagt wird:
Weil weniger Kinder nachwachsen und die Menschen immer älter werden, ist es logisch, dass alle länger arbeiten müssen. »Deutschland kann seinen Wohlstand nur dann dauerhaft sichern, wenn es gelingt, die Erwerbstätigkeit von älteren Arbeitnehmern zu erhöhen.« Und zwar nicht nur bis zum Alter von 67, sondern auch darüber hinaus: »Wenn das Verhältnis von Ruhestands- und Erwerbsphase näherungsweise konstant gehalten werden soll, wäre […] bis 2060 eine Anhebung des gesetzlichen Rentenalters auf 69 Jahre notwendig.«
Was ist dran?
Richtig ist, dass die Lebenserwartung steigt und Menschen in Deutschland wie fast überall in Europa weniger Kinder bekommen als früher. In der EU liegt die sogenannte Geburtenrate, die Anzahl der Lebendgeburten pro Frau, bei 1,59. Deutschland liegt mit 1,36 geringfügig darunter. Weil nicht alle Neugeborenen das Erwachsenenalter erreichen, muss die Geburtenrate etwas über zwei liegen, damit eine Generation zahlenmäßig so groß ist wie die Generation vor ihr. Liegt die Rate darunter, schrumpft die Bevölkerung langfristig. Liegt sie darüber, wächst sie.
Dass die logische Folge aus all dem eine längere Lebensarbeitszeit ist, stimmt wiederum nicht. Denn die Wohlstandssicherung hängt nicht davon ab, wie viele Erwerbsfähige es im Verhältnis zu jenen gibt, die nicht mehr arbeiten (RentnerInnen) oder noch nicht arbeiten (Kinder). Entscheidend ist vielmehr erstens: Wie viele der Erwerbsfähigen arbeiten auch tatsächlich? Und zweitens: Wie produktiv sind sie, das heißt, wie viel produzieren sie pro Stunde, Tag und Woche?
Zur ersten Frage: Obwohl gegenwärtig manche bereits von Vollbeschäftigung sprechen, könnte die Erwerbstätigkeit noch um etwa 15 Prozent steigen: Drei Millionen Menschen sind offiziell arbeitslos gemeldet. Noch einmal so viele sind in der sogenannten »stillen Reserve«, wollen also arbeiten, sind aber nicht offiziell arbeitslos gemeldet. Und viele würden gerne länger arbeiten, haben aber nur einen Teilzeit- oder Minijob gefunden. In Deutschland arbeitet fast die Hälfte der Frauen Teilzeit. In Frankreich oder Schweden sind es nur rund ein Drittel, die überwiegende Zahl der erwerbstätigen Frauen hat dort Vollzeitstellen. Und ausgerechnet in diesen beiden Ländern liegen die Geburtenraten
bei zwei.
Zwischenfazit: Der Rückgang der Erwerbsfähigen gemessen an der Gesamtbevölkerung könnte teilweise ausgeglichen werden, wenn die Erwerbstätigkeit stiege.
Zur Frage der Produktivität: Natürlich kann immer mehr produziert werden, selbst wenn die Zahl der Arbeitenden gleich bleibt oder sinkt. Denn die Produktivität steigt permanent, dank der technologischen und organisatorischen Veränderungen bei der Erstellung von Gütern und Dienstleistungen. 1991 wurden in einer durchschnittlichen Arbeitsstunde in Deutschland Güter oder Dienste im Wert von 29 Euro erstellt, 2012 waren es Güter im Wert von 40 Euro – nach Abzug der Inflation.
Was der Anstieg der Produktivität leistet, zeigt folgendes Zahlenbeispiel: Wächst die Produktivität in den nächsten 50 Jahren durchschnittlich nur um ein Prozent pro Jahr, dann würden im Jahr 2060 alle Beschäftigten pro Stunde zwei Drittel mehr herstellen als heute.
Nun geht die Zahl der Erwerbstätigen aber schrittweise zurück. Bei sehr zurückhaltenden Prognosen würde das Bruttoinlandsprodukt in Deutschland ab 2020 dann zwar nicht weiter wachsen (was aus ökologischen Gründen sinnvoll wäre). Trotzdem würde der Wert der Güter und Dienstleistungen pro Kopf bis 2060 um etwa 35 Prozent steigen. Der gesamtwirtschaftliche Kuchen bliebe somit gleich groß. Weil er – theoretisch – aber auf weniger Köpfe verteilt würde, bekäme jeder und jede ein größeres Stück ab. Ob das geschieht, hängt allerdings von der Verteilung ab.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.