Verpasste Chance
Dierk Hirschel über das fatale europapolitische Weiter-So bei den Koalitionsverhandlungen von Union und SPD
Mitte November schaute ganz Südeuropa nach Leipzig. Dort trafen sich die deutschen Sozialdemokraten zu ihrem Parteitag. Der italienische Ministerpräsident Enrico Letta überbrachte den Genossen eine wichtige Botschaft: In ihren Händen liegen Entscheidungen, die die Zukunft Europas mitbestimmen werden.
Nach den Bundestagswahlen hofften unsere Nachbarn auf einen Politikwechsel nach dem Motto: Schluss mit der ökonomisch schädlichen und sozial ungerechten Kürzungspolitik. Stattdessen Investitionen in qualitatives Wachstum und Arbeitsplätze. Doch der bisherige Verlauf der Koalitionsverhandlungen gibt wenig Anlass zur Hoffnung.
SPD-Chef Sigmar Gabriel, CSU-Chef Horst Seehofer und Kanzlerin Angela Merkel konnten sich in den Europafragen schnell einigen. Vieles soll so bleiben wie es ist. Die von der Troika verordnete Kürzungspolitik wird fortgesetzt. Von Athen bis Madrid gehen die Entlassungen und Lohnkürzungen weiter. Unter dem Deckmantel sogenannter Strukturreformen wird weiterhin die südeuropäische Tariflandschaft umgepflügt, die Tarifautonomie ausgehebelt, der Sozialstaat abgebaut und öffentliches Eigentum verscherbelt. Die neue Berliner Regierung wird diese neoliberale Schocktherapie nicht beenden.
Die rote Handschrift in der künftigen Europapolitik zeigt sich allein darin, dass jetzt verstärkt in die Zukunft investiert werden soll. So soll die Europäische Investitionsbank künftig mehr Kredite vergeben. Die EU-Strukturfonds sollen stärker Wachstum fördern. Und Projektbonds sollen neue Investitionen anschieben.
Das ist nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Neue Kredite helfen nicht, wenn die Firmen keine Aufträge haben. Die knappen Mittel der Strukturfonds und Projektbonds reichen nicht aus, um das Wachstum europaweit anzukurbeln. Darüber hinaus würgen die anhaltenden Ausgaben- und Lohnkürzungen die zarten Wachstumsimpulse wieder ab. Dieser Karikatur einer Wachstumspolitik droht das gleiche Schicksal wie dem 2012 beschlossenen Pakt für Wachstum und Beschäftigung. Sie endet als Rohrkrepierer.
Doch damit nicht genug. Auch der von Angela Merkel angeschobene Um- und Ausbau der EU-Institutionen nach neoliberalem Bauplan geht unter einer großen Koalition munter weiter. Die konservativ-liberale Variante einer Europäischen Wirtschaftsregierung ist eine enge Zusammenarbeit der EU-Mitgliedsstaaten. Verschärfte europäische Schuldenregeln trimmen die nationalen Kassenwarte auf Sparen bei den Ausgaben. Dies ist schädlich für Konjunktur, Wachstum und Beschäftigung. Des Weiteren sollen die europäischen Institutionen zukünftig mit den Mitgliedstaaten Verträge über Strukturreformen schließen. Mit Hilfe dieses Pakts für Wettbewerbsfähigkeit sollen die nationalen Finanz-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitiken dauerhaft neoliberal ausgerichtet werden. So werden Deregulierung, Privatisierung und Sozialabbau institutionalisiert.
Es ist ein großer historischer Fehler der deutschen Sozialdemokratie, nicht mit aller Kraft für einen europapolitischen Kurswechsel zu streiten. Im Bundestagswahlkampf wurde die Merkelsche Europapolitik aus Angst vor den Stammtischen nicht angegriffen. In den Koalitionsverhandlungen war der europapolitische Kurs der Kanzlerin kein Streitthema. Das wird sich noch bitter rächen. Die aktuelle Krise spitzt sich weiter zu. Wirtschaftlich droht eine Deflation – also sinkende Preise und Gewinne. Sozial drohen dauerhaft Massenarbeitslosigkeit und steigende Armut. Politisch droht eine Stärkung nationalistischer und rassistischer Kräfte. Die kommenden Europawahlen lassen grüßen. Eine naive Beschwörung der europäischen Friedensidee hilft da nicht weiter.
Die schwerste Krise seit der Geburt des Euro kann nur durch einen Politikwechsel überwunden werden. Die Kürzungspolitik muss sofort gestoppt werden. Gleiches gilt für die Angriffe auf die Errungenschaften der südeuropäischen Gewerkschaften. Wir brauchen jetzt ein europäisches Investitions- und Aufbauprogramm – einen Marshall-Plan zur Verbesserung der Infrastruktur, Umwelt und Energieversorgung. Eine solche alternative Politik kann den Weg ebnen in ein Europa mit gemeinschaftlichem Schuldenmanagement, koordinierter Lohn-, Steuer- und Sozialpolitik, gemeinsamen Regeln für die Finanzmärkte und einer Europäischen Wirtschaftsregierung. Ein soziales Europa fällt aber nicht vom Himmel. Viele Chancen, die Weichen neu zu stellen, wird es nicht mehr geben.
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