Von der Selbstkritik zur Basisdemokratie

Trotz des Mitgliederentscheids ist der Weg zu einer größeren Mitbestimmung bei den Sozialdemokraten noch weit

  • Roland Bunzenthal
  • Lesedauer: 3 Min.
Für viele SPD-Mitglieder ist es schwer, die Koalitionsvereinbarung einigermaßen objektiv zu bewerten. Um einen Vertrag mit einklagbaren Versprechen handelt es sich allerdings ohnehin nicht.

Die Arbeitsgemeinschaft 60-plus des SPD-Unterbezirks Frankfurt am Main lädt ihre Mitglieder zur »Jahresabschlussfeier« ein - diesmal am 11. Dezember. »Wir wollen uns mal wieder einige Stunden ohne Tagesordnung und Anträge treffen«, heißt es in der Einladung, »einfach zum Babbeln und Fröhlichsein bei Gitarrenbegleitung und Arbeiterliedern«. Das ist das zweite Standbein der SPD - vor allem bei den älteren Mitgliedern: eine alte Tradition, ein gemütliches Beisammensein gegen die Einsamkeit im Alter. Nicht umsonst hatte die SPD ihren Bundestagswahlkampf vor allem mit dem Wörtchen »Wir« bestritten. Das erste Standbein ist nach wie vor die politische Diskussion. Themen, die ihr eigenes Leben betreffen, berühren die Senioren zuerst. Viele von ihnen wissen genau, was Altersarmut oder Rente mit 67 bedeuten. Sie gehören zu den etwa zwei Prozent aller Bundesbürger, die sich in einer Partei engagieren und dabei »nicht alles schlucken, was die da oben verbockt haben«, so einer der Senioren. Ortsverein, AG, Parteitag dienen als Podium ihres Protestes gegen die eigene Führung. Geschlossenheit ist allerdings angesagt, wenn die Kritik von außen kommt.

Der 11. Dezember liegt nicht nur in der besten Zeit für Weihnachtsfeiern, sondern er ist diesmal auch der letzte Tag, an dem die SPD-Mitglieder den roten Umschlag mit dem Ja- oder Nein-Kärtchen über den Koalitionsvertrag an die Parteizentrale abschicken können. Als Teil des überdurchschnittlich rebellischen Bezirks Südhessen hatten die Frankfurter Senioren die Ehre, die erste Station der Verteidigungskampagne des Parteichefs zu sein. Stundenlang hörte sich Sigmar Gabriel im Taunusstädtchen Hofheim den Zorn der Delegierten an - über sozialdemokratische Kerninhalte, die keinen Eingang in den Vertrag gefunden hatten.

Die meisten Parteimitglieder sind mit einer einigermaßen objektiven Einschätzung der 185 Seiten überfordert. Wer hat schon Zeit oder Lust, das Vertragswerk in vollem Umfang zu lesen und zu bewerten? Man pickt sich die interessierenden Punkte heraus, vergleicht sie bestenfalls mit dem Wahlprogramm und diskutiert sie zwischen Stammtisch, Arbeitsplatz und Ortsverein. Das reicht den meisten für die Willensbildung. Der massive Einsatz der führenden Funktionsträger löst bei einigen Sozialdemokraten von der Basis Solidarisierungsgefühle aus - bei anderen eine Art Trotzhaltung.

Viele SPD-Mitglieder machen sich wenig Illusionen über den Stellenwert des Wünsch-dir-was-Katalogs. Ein Vertrag im juristischen Sinne mit einklagbaren Versprechen ist er nicht. Die Koalitionsvereinbarung ändert nichts an der grundgesetzlich garantierten Gewissensfreiheit der Abgeordneten, aber auch nichts an der Richtlinienkompetenz der Kanzlerin. Die dürfte umso eher aktiviert werden, je mehr die Rahmenbedingungen sich verdüstern. Spätestens, wenn die gesamtstaatliche Kasse tief in die roten Zahlen rutschen sollte, sehen viele Politikpropheten für die künftige Politik der Koalitionäre schwarz.

Dennoch erfüllt der Vertrag eine wichtige Doppelfunktion: Zum einen dient er der Kontrolle der Mächtigen als nachprüfbares Minimalarbeitsprogramm. Spätestens in zwei Jahren - zur Halbzeit - sieht man, was aus den 185 Seiten in der Realität geworden ist. Zum anderen dient der Vertrag der Politisierung und kritischen Bewusstseinsbildung der Basis. Zwecks Reduktion von Komplexität hat die SPD-Führung dem Abstimmungsbrief eine im doppelten Sinne einseitige Erfolgsbilanzliste beigefügt: Änderungen des Arbeitsrechts, Verbesserungen bei Rente und Pflege sowie Investitionsprogramme (Verkehr, Kommune, Schule/Kita). Zusammen kostet das rund 24 Milliarden Euro. Wer soll das bezahlen? Antwort der Spitze: Im Zweifel der Beitragszahler, der den etwas besser verdienenden Steuerzahler entlastet.

Ist der Versuch, eine halbe Million Bundesbürger stärker in den politischen Gestaltungsprozess einzubeziehen, der Weg in eine basisdemokratische Zukunft? »So jedenfalls nicht«, meinte ein Delegierter beim SPD-Parteitag. Die Beteiligung der Basis dürfe sich nicht auf die realpolitische Alternative - »überzeugtes Ja« oder »zähneknirschendes Ja« - beschränken, sie müsse bereits bei der Aufstellung des Wahlprogramms den Ortsvereinen die Chance geben, eigene inhaltliche Schwerpunkte einzubringen.

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