Migration gehört zum geeinten Europa

Rainer Ohliger fordert, in der Debatte um Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht in alte Abwehrreaktionen zurückzufallen

  • Lesedauer: 3 Min.

Ein Gespenst geht um in Europa. Wieder einmal. Dieses Mal heißt es »Armutsmigranten als Sozialtouristen«. Mit Jahresbeginn trat in der Europäischen Union die volle Freizügigkeit für Arbeitnehmer aus Rumänien und Bulgarien in Kraft. Es war ein letzter Schritt zur Vollendung des Binnenmarkts.
Mit diesem politisch gewollten Ziel geht jedoch die Sorge einher, dass es zu unkontrollierter Armutszuwanderung in die alten Mitgliedsstaaten kommen könnte. In Deutschland gibt es seit einigen Monaten Klagen aus Kommunen wie Dortmund, Mannheim oder Offenbach über eine verstärkte Zuwanderung bulgarischer und rumänischer Staatsbürger, vermutlich mehrheitlich Roma. Das böse Wort der »Einwanderung in die Sozialsysteme« macht die Runde.

Unterstellt werden betrügerische Absichten. Aus den Untiefen bayrischer Bierzelte heißt es: »Wer betrügt, der fliegt«. Mit Blick auf die anstehende Kommunalwahl in Bayern und die Europawahl werden die rhetorischen Geschütze in Stellung gebracht, um Anti-Europa- und Anti-Einwanderungsstimmungen politisch zu kanalisieren. Der Wanderpokal »Angst vor den Fremden« geht dabei an Bulgaren und Rumänen. Politisch zielführend ist dies nicht. Zur Versachlichung der Debatte lohnt ein Blick auf einige Fakten und Zusammenhänge:

Will man ein geeintes Europa, dann gehört Migration über die Grenzen der Nationalstaaten dazu. Migrationen zwischen wirtschaftlich unterschiedlich entwickelten Gebieten liegen in der Logik des Binnenmarkts. Statt pauschal bestimmte Gruppen zu verunglimpfen, sollte auf gezielte Steuerung der Zuwanderung durch Anwerbung gesetzt werden – auch für geringer Qualifizierte, die der deutsche Arbeitsmarkt ebenso nachfragt.

Dabei gibt es Rückwirkungen auf Bulgarien und Rumänien. Einerseits verlieren die Länder zahlreiche gut qualifizierte Personen, wie sich unschwer in den ausgebuchten Sprachkursen der deutschen Goethe-Institute zeigt. Andererseits führt dieser Braindrain zu Geldtransfers der Migranten ins Heimatland. Dies ermöglicht dort Konsum und Investitionen.

In Deutschland leben zurzeit nur 370 000 vergleichsweise junge Rumänen und Bulgaren. Die Hälfte (51 Prozent) ist sozialversicherungspflichtig beschäftigt, aber nur zehn Prozent leben von Transferleistungen. Diese Daten sind im Vergleich zu Herkunftsdeutschen günstiger. Migration aus den beiden Ländern bedeutet also einen Nettogewinn für Deutschland.

Schaut man auf die Migrationsverflechtungen von Bulgarien und Rumänien, so gilt, vor allem für das bevölkerungsreichere Rumänien, dass die Auswanderungen vornehmlich nach Italien und Spanien gehen, was teils sprachlich-kulturelle Gründe hat, teils mit engen Verbindungen durch Wanderungen seit Ende des Kalten Kriegs zu tun. Deutschland ist nur ein Zielland unter anderen – nicht das wichtigste.

Die deutsche Gesellschaft hat in den letzten 15 Jahren eine erstaunliche Modernisierung hin zu einer rationalen und pragmatischem Migrations- und Integrationspolitik durchlaufen. Angst- und emotionsgesteuerte Debatten, wie sie bis in die späten 90er Jahre typisch waren, wurden weitgehend eingehegt. Das Land lernte in Kontroversen, dass Migration und Integration politisch gestaltbar sind. Neue Angstdebatten sind daher ein Rückschritt.

Einige Kommunen tragen tatsächlich stärkere Lasten, die aus Armutsmigration resultieren. Es handelt sich aber um eine überschaubare Anzahl von Städten mit vergleichsweise schwacher Wirtschaft und strukturellen Problemen. Die sozialen Konflikte in Duisburg oder Dortmund resultieren nicht in erster Linie aus Folgen von Migration, sondern aus dem langfristigen Wandel des Ruhrgebiets von der Industrie- zur Dienstleistungsregion.

Wo Kommunen akut überfordert sind, sollten das Land oder der Bund strukturelle Unterstützung leisten. Die aus der Migration entstehenden Probleme als »Roma-Problem« zu vereinfachen, ist weder politisch noch analytisch hilfreich, auch wenn es den Wohlstandsbürgern Westeuropas anschaulich zeigt, dass diese nicht unkomplizierte Minderheitenfrage Südosteuropas gesamteuropäische Antworten verlangt. Im eigenen Interesse sollten Politik und Gesellschaft in Deutschland nicht in alte Muster verfallen, also die Tatsache, Einwanderungsland zu sein, weder leugnen noch sich in Abwehrreaktionen ergehen und auch keine Schreckgespenster an die Wand malen.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.