Reklame, Dekoration, Erkenntnis

Zur Kunst im Kapitalismus

  • Gerhard Schweppenhäuser
  • Lesedauer: 7 Min.

Ältere Kunst perfektionierte überlieferte Techniken und Stile. Moderne Kunst wollte durch Abkehr von der Tradition schockieren und aufrütteln. So wurde der Kult des Neuen zu ihrem Dreh- und Angelpunkt.

Die ästhetische Forderung nach Neuheit ist mit dem Bewegungsgesetz der Warenproduktion verwandt. Wird lebendige Arbeitskraft durch Automaten ersetzt, um die Produktivität zu erhöhen, entfällt auf jedes einzelne Produkt weniger Mehrwert. Also müssen ständig neue Produkte her, um die wertbildende Kraft der Arbeit abzuschöpfen und die Marktanteile auszudehnen. Die krisenhafte »Epidemie der Überproduktion« (Marx) führt zum ständigen Wechsel der Erscheinungsformen der Warenwelt. Zugleich ähneln sich ihre jeweils neuen Elemente aber auch.

Marcel Duchamp

Der französisch-US-amerikanische Konzeptkünstler Marcel Duchamp (1887-1968) ging mit seinen Fertigkunstwerken, den »Ready mades«, in die Geschichte ein. Am berühmtesten wurde das hier abgebildete Urinal mit dem Titel »Fontäne« (1917), das Duchamp zufolge allein durch seine Auswahl und durch die Montage auf einen Sockel in einem Ausstellungsraum zum Kunstwerk erhoben wurde.

In der Tradition von Duchamp, schreibt Gerhard Schweppenhäuser in seinem hier veröffentlichten Text, wurde durch die Neoavantgarden der 1960er Jahre die Kommunikation zwischen Künstlern und Kunstbetrachtern aufgewertet. Die Zeit der »Happenings« und »Performances« war angebrochen. Auf Duchamps Pissoir bezogen, muss man sich das wohl so vorstellen, dass die Ausstellungsbesucher (und Ausstellungsbesucherinnen) das Pinkelbecken in einem Museumssaal nicht lediglich betrachten, sondern selbstverständlich auch benutzen würden. mha

1848 zeigte Karl Marx im »Kommunistischen Manifest« auf, wie die »moderne Bourgeoisie« in einer furiosen Jagd um den Erdball den kapitalistischen Weltmarkt etabliert. Charles Baudelaire beschrieb 1859 in dem Gedicht »Die Reise«, wie der moderne Kunst-Mensch auf der Jagd nach dem Neuen um die ganze Welt getrieben wird. Sein Ziel erreicht er erst im Untergang, im Tod, der allerletzen Neuigkeit - und damit verfehlt er es zugleich. Damit war die Frage aufgeworfen, ob das Neue überhaupt möglich ist. Die unstillbare Begierde nach neuen Genüssen und Erfahrungen wurde zur kulturellen Sehnsuchtsgeste. Ihre profane ökonomische Entsprechung ist die endlose Güterproduktion.

Im Ideal des Neuen steckt aber auch ein echtes ästhetisches Postulat, die Kritik am Immergleichen der bürgerlichen Erwerbsrationalität. Die ästhetische Moderne neigte dazu, das Neue um seiner selbst willen zu vergötzen und damit die ökonomische Logik widerzuspiegeln. Doch sie enthält auch das utopische Versprechen eines anderen Lebens, das mit der Logik des Produktions- und Zirkulationsalltags bricht. Das Neue steht also zugleich für das »Immergleiche« der Waren und für das »ganz Andere« einer Lebensform jenseits der bürgerlichen.

Dieses »Andere« wurde bei Baudelaire, in einer grandiosen Geste der Verweigerung, zur Chiffre des Todes. Aber auch zur Utopie eines neuen, selbstbestimmten Lebens. Baudelaire hat die utopische Intention negativ, als totale Ablehnung der bestehenden Gesellschaft, formuliert. Er proklamierte den Exodus in »künstliche Paradiese«, den Rückzug in eine Kunst wirklicher Schönheit und authentischer Erfahrung.

Die Avantgarde-Bewegungen des 20. Jahrhunderts formulierten die utopische Intention als soziales Programm. Autonomie der Kunst wurde Platzhalter für gesellschaftliche Autonomie. Die »Aufhebung« der Kunst sollte Verwirklichung ihrer Utopie sein. Kunst sollte nicht verschwinden, sie sollte in der Praxis des Lebens aufgehoben werden.

Marcel Duchamp hat den Kult des Neuen paradox auf die Spitze getrieben. Seine Innovation: Er verzichtete darauf, neue Produkte herzustellen. Inmitten der »Epidemie der Überproduktion« überführte er Gebrauchsgegenstände aus der Alltagswelt in die Kunstwelt, zum Beispiel ein Pinkelbecken. Das Publikum sollte lernen, seine Wahrnehmung zu verändern. Das gab Anlass, die »bürgerliche Institution Kunst« (Christa Bürger) in Frage zu stellen.

Die nächste Verweigerungsgeste betraf das Konzept des Kunstwerks als Werk. Die Neoavantgarden der 1960er Jahre lösten es in Aktion, Handlung und Ereignis auf. Im Kunstbetrieb waren happenings, environments und performances angesagt. Die Trennung zwischen Kunstritual und Alltagsleben wurde unscharf. Die Fluxus-Bewegung überschritt traditionelle Vorstellungen von Form, Maß und Proportion. In der Tradition von Duchamp wurde die Rezeption aufgewertet, es ging nun um die Kommunikation zwischen Aufführenden und Besuchern. Das konnte man für eine Erneuerung der klassischen Avantgarde, einen erneuten Vorboten sozialer Umwälzungen, halten. Doch die revolutionäre Hoffnung verflüchtigte sich, die ästhetischen Transformationen erwiesen sich als Verjüngungskuren der Kunstmarkt-Kunst. Ihre Rituale waren Wegmarken zur »Verklärung des Gewöhnlichen« (Arthur C. Danto).

Der Bruch der Avantgarde mit der bürgerlichen Kunstpraxis war offenbar doch nicht so radikal. Der Kult des Neuen wurde institutionalisiert, der Kunstbetrieb vitalisiert. Er wurde sozusagen auf den neusten Stand gebracht. Trotzdem lag weder die alte Avantgarde falsch noch die neue.

Die sozialen Funktionen der Kunst

Kunst hilft Menschen, besser zu verstehen, wie sie ihr Verhältnis zur Welt durch soziale Interaktion gestalten. Wieso kann sie das?

Wie Religion und Kultur schafft Kunst Räume für die Übergänge zwischen dem »Privaten« und dem »Öffentlichen«. Sie bietet Kodierungen und ästhetische Formen an, mit denen sich das seelische und leibliche Geschehen in sozial anerkannte Praxis übersetzen lassen. Dabei werden abstrakte Formen gesellschaftlicher Praxis in sinnlich wahrnehmbares, anschauliches und spürbares Erleben übersetzt.

Künste können Reklamemedium sein, Dekorationsmedium oder Erkenntnismedium. Kunst legitimiert gesellschaftliche Zustände und schafft Einverständnis. Arnold Gehlen meinte, keine Form sozialer Herrschaft könne »darauf verzichten, das Bewußtsein der Menschen zu besetzen«, und zwar »bis in die Anschauungen hinein«. Kunst kann Wohlbefinden vermitteln, aber auch Einsichten in die vergesellschaftete, innere und äußere Natur. Der Witz ist, dass ein Kunstwerk alle drei Funktionen zugleich erfüllen kann, aber natürlich nicht in derselben Hinsicht. Ein Werk, das auf dem Kunstmarkt Erfolg hat, kann die Repräsentationsräume eines Bankhauses schmücken. Das ist die Reklamefunktion. Es kann die Geschäftsatmosphäre durch Formen, Farben oder seine Bilderzählung verbessern, es kann die Arbeitsumgebung humanisieren. Das ist die dekorative (oder: therapeutische) Funktion. Es kann den Repräsentanten, Geschäftspartnern und Besuchern des Instituts aber auch Erfahrungen und Reflexionen ermöglichen, die sie anders nicht machen könnten. Das ist die Erkenntnis-Funktion.

Selbst Trivialitäten wie David Hockneys »I-phone paintings« sind nicht ganz frei von solchem Erkenntnispotenzial. Denn ihr Umgang mit bildnerischen Techniken gibt Anlass, über die Legitimität überlieferter Bildkonzepte im Zeitalter ihrer kommunikationstechnischen Produzierbarkeit nachzudenken.

Doch es scheint, als trete die Erkenntnisfunktion immer mehr zurück. Kunstmarktkunst, Ausstellungskunst oder Repräsentationskunst (im öffentlichen Raum oder in den Räumlichkeiten staatlicher Herrschaft): Alles gehört zum Spektakel der Waren. Im Zentrum steht der Wettbewerb um die Aufmerksamkeit des Publikums. Gerhard Richter stellt mit der Geste des Altmeisters Streifen- und Glasbilder aus; David Shrigley füllt einen Raum mit Kunstschulmobiliar und einer frechen nackten Kleiderpuppe; Spartacus Chetwynd bietet antikünstlerische Aufführungen in dilettantischen Kulissen und Kostümen dar; Elizabeth Price vermischt in einem Video dokumentarische Bilder und Popmusik aus vergangenen Jahrzehnten. »Spätestens wenn die Shangri-Las im zweiten Drittel des Films unvermittelt anfangen zu schmettern«, frohlockte der professionelle Kommentar auf »Spiegel online«, dann »stellt sich die Frage nach der Eigenständigkeit der Bilder, der Tonspur - und unseren ästhetischen Konventionen, mit denen wir beides zur Deckung zu bringen versuchen«. Aber ist die Frage, indem sie sich stellt, nicht auch schon beantwortet? Eröffnet die Video-Wahrnehmungsübung noch eine ästhetische Transzendenz, gar eine utopische Perspektive? Oder bestätigt sie eine postkonventionelle Ästhetik, die längst zur Konvention geworden ist?

Kunstmarktkunst und Ausstellungskunst unterscheiden sich vom Erlebnisritual der Alltagskultur nur noch durch höhere Preise und durch Reste von Expertendiskurs in Feuilletons und Kunsthochschulen. Mittlerweile gilt nicht mehr nur für den Unterhaltungsbetrieb, sondern auch für den Kunstbetrieb: Die Wahrheit darüber steht nicht im Feuilleton, sondern im Wirtschaftsteil der Zeitung.

In der Verabschiedung des klassisch-modernen Kunstkonzepts kommt eine Transformation des Kapitalismus zur ästhetischen Erscheinung. Heute dominiert nicht mehr die Produktionssphäre, sondern die Distribution. Der »Medienkapitalismus« ist die aktuelle Erscheinungsform der Veränderungen im Produktionsverhältnis. Markus Metz und Georg Seeßlen nennen das den »verflüssigten Kapitalismus«.

Eine Rückkehr zum Kunstwerk als »Werk«

Die Verflüssigung der Kunst durch Fluxus und die Nachfolger, würde ich sagen, vollzieht die kapitalistische Vergötzung des Tauschwerts mit. Der »Gebrauchswert« autonomer Kunst besteht darin, Erfahrungen zu ermöglichen, die modellhaft für die Möglichkeit eines anderen Umgangs miteinander sowie mit der äußeren und inneren Natur stehen können. Integration des künstlerischen Ausdrucks und Regression der ästhetischen Wahrnehmung lösen diesen Gebrauchswert kulturindustriell auf.

Eine erneute Rehabilitierung des Kunstwerks als Werk könnte helfen, den Produktivismus des Kapitals durch Innehalten und Erinnern zu irritieren. Kunst wird dann zum Medium des Eingedenkens. Als nicht-begriffliche, sinnlich-anschauliche Sozialgeschichtsschreibung gibt sie nicht nur Antworten auf die Fragen »Was war?« und »Was ist?«, sondern auch auf die Frage: »Was könnte sein?« Kunst als anschauliche Geschichtsschreibung ist wichtig, weil sie durch ihre Negation der Gegenwart hilft, Bilder einer anderen Zukunft zu entwerfen.

Und zwar, indem sie unser routiniertes Verständnis der Welt irritiert, indem sie anders ist als das Vertraute im Alltag. Indem sie sich dem Gewohnten entzieht, kann sie uns den Gewohnheiten entziehen, mit denen wir die Welt deuten. Die Erwartungsirritation ist darin begründet, dass die Rezeption eines Werks im Grunde nie abgeschlossen werden kann. Jede Deutung, jede Entschlüsselung des Sinnes von einem Kunstwerk kann irgendwann an einen Punkt kommen, an dem sich neue Sinnebenen und Bedeutungen erschließen, die sich zuvor nicht aufgetan hatten. Sie ist grundsätzlich unabschließbar. Theodor W. Adorno sprach deshalb vom »Rätselcharakter« der Kunst.

Gerhard Schweppenhäuser ist Professor für Design-, Kommunikations- und Medientheorie in Würzburg und Mitherausgeber der »Zeitschrift für kritische Theorie«. Er studierte Philosophie, Germanistik und Pädagogik und lehrte u.a. in Kassel, Durham (North Carolina) und Bozen. 2007 erschien sein Buch »Ästhetik. Philosophische Grundlagen und Schlüsselbegriffe« (Campus), 2013 folgte »Bildstörung und Reflexion. Studien zur kritischen Theorie der visuellen Kultur« (Königshausen & Neumann).

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