Ein Eisberg mit Krone
Die lettische Hauptstadt Riga ist - neben dem nordschwedischen Umeå - Kulturhauptstadt Europas 2014
Die Niederflurstraßenbahn, die vor der alten lettischen Nationalbibliothek in Riga hält, ist eine ganz moderne, leise und bequeme. Wenn man an der Haltestelle aussteigt, stehen ebenso neue Autos in einer Reihe hintereinander auf der Straße. Die historischen Häuser rundherum sind schön renoviert. Doch wenn man sich dem Haus der Nationalbibliothek nähert, fühlt man sich plötzlich, als sei man in die Vergangenheit gereist.
Seit Jahrzehnten hat dieses einhundert Jahre alte, im Neoklassizismus gebaute Gebäude keine Veränderungen erlebt. Abgebröckelte Wände, altmodische Regale, veraltete Schubladen mit handgeschriebenen Karteizetteln. Zum Büro des Direktors der Nationalbibliothek, Andris Vilks, führt ein schmaler Flur mit altem Holzboden. Die Schritte quietschen darauf so laut, dass es die Leser, die in den Nebenräumen sitzen, bei ihrer Arbeit stört. Vor drei Jahren war der Boden im Erdgeschoss des Gebäudes sogar eingebrochen. Rund 80 000 Bücher fielen damals in den Keller, der voll Wasser gelaufen war.
»Nun ist dieser Wahnsinn vorbei - für immer«, sagt Andris Vilks mit müder, aber erleichterter Stimme. In diesem Jahr zieht die lettische Nationalbibliothek, die bisher in acht in ganz Riga verstreuten Gebäuden untergebracht war, in ein neugebautes, hochmodernes Gebäude um. Insgesamt viereinhalb Millionen Werke müssen dorthin transportiert werden. Damit wird die Nationalbibliothek zum ersten Mal in der Geschichte Lettlands an einem Ort zusammengeführt, so Vilks.
Am Samstag begannen die Umzugsarbeiten mit einer spektakulären Aktion: Tausende Freiwillige, eingereiht in eine zwei Kilometer lange Menschenkette, reichten Bücher von Hand zu Hand in das neue Bibliotheksgebäude auf der anderen Seite des Flusses Daugava weiter. Mit dieser Aktion eröffnete Riga sein Jahr als Kulturhauptstadt Europas.
Die Bücher werden im neuen Haus in idealen Bedingungen gelagert, die Leser werden angenehm arbeiten können. »Niemand muss mehr von einem Haus zum anderen durch die ganze Stadt laufen, um Informationen zu finden. Die neue Bibliothek wird ein Ort für die Menschen sein«, verspricht Andris Vilks.
Ein Schloss des Lichts, versunken im Wasser
Für die Letten bedeutet die neue Bibliothek allerdings noch etwas mehr als nur ein modernes Gebäude. »Sie wird bei uns als Symbol des Nationalstolzes gesehn«, sagt Vilks. Der neue Bau sieht wie ein Eisberg mit einer Krone aus. Diese Metapher stammt aus einem Drama des lettischen Autors Janis Rainis (1865-1929) mit dem Titel »Das goldene Ross« (1909) und geht auf eine alte baltische Volkssage zurück: Eine Prinzessin ist auf dem Gipfel eines Glasberges zu ewigem Schlaf verdammt, bis jemand den steilen Berg bezwingt und sie damit erlöst. Architekt Gunnar Birkerts, ein in den USA lebender Exil-Lette, gehöre »zu den Architekten, die versuchen, in jedes Gebäude kräftige Ideen einzusetzen,« sagt Vilks. »Hier ist nicht nur die Idee des Glasberges umgesetzt, sondern auch die Metapher des Schlosses des Lichtes.« Die stammt von einem anderen lettischen Autor, Auseklis (1850-1879), und erzählt von einem Schloss, das ins Wasser gesunken ist, aber einst wieder auftauchen muss.
Für das kleine Lettland mit seinen zwei Millionen Einwohnern kostete der Bau enorm viel Geld: Rund 280 Millionen Euro gaben die Steuerzahler aus. Und mit dem Bau ging es den Letten ähnlich wie den Hamburgern mit ihrer Elbphilharmonie oder den Berlinern mit ihrem neuen Flughafen. Von seiner Projektierung bis zur Fertigstellung vergingen 25 Jahre. »In keiner Demokratie gehen solche Großprojekte schnell«, sagt Vilks. »Doch bei uns kam noch die Wende dazu. Wir wurden von einem sozialistischen zu einem kapitalistischen Land transformiert. Alles - die Wirtschaft, die Gesetze, das Finanzsystem, die Politik - hat sich total geändert.« Als die Projektierung des Hauses anfing, gehörten die Grundstücke am Bauort der Bibliothek noch dem Staat. »Als das Projekt bereits fertig geplant war, stellte sich heraus, dass ein Drittel des Grundstücks Privateigentum ist, ein weiteres Drittel der Stadt und der Rest dem Staat gehört.« Die Begeisterung der Bevölkerung für das Projekt sank kontinuierlich. Es gab Unterschriftensammlungen und Proteste, weil man darin unsinnige Geldverschwendung erkannte. Dann kam die schwere Wirtschaftskrise, in deren Folge die Fertigstellung des Baus um weitere Jahre verschoben werden musste.
Nun aber, im Laufe des Kulturhauptstadt-Jahres, wird die neue Bibliothek als eines der wichtigsten Objekte präsentiert. Eine der ehrgeizigsten Veranstaltungen ist die Ausstellung »Das Buch 1514-2014«. 1514 war ein bedeutendes Jahr: Das erste Buch in arabischen Lettern und die erste Thora wurden in Lettland gedruckt, die erste jüdische Druckerei wurde begründet. Einige Jahre später erschien auch das erste lettischsprachige Buch - eine Übersetzung des katholischen Katechismus des deutschen Jesuiten Petrus Canisius. Doch heute erlebt man eine andere Revolution. Man spricht sogar von einem zweiten Gutenberg-Zeitalter, wenn vom modernen Buchwesen die Rede ist. Die Medien werden digitalisiert, auch das Buch. Der Frage, was ein Buch heute auszeichnet, werden Wissenschaftler, Literaten und Schriftsteller in Riga in zahlreichen Lesungen, Gesprächen und Konferenzen nachgehen.
Auch gesungen wird viel in Riga während des Jahres als Kulturhauptstadt. Zu den »World Choir Games« im Sommer werden 20 000 Sänger aus fast 90 Ländern erwartet, die die Plätze und Straßen Rigas mit Gesang erfüllen werden. Im Laufe des Jahres werden auch prominente Musiker, die wie Mariss Jansons, Elina Garanca oder Gidon Kremer in Riga geboren wurden, eine Reihe von Konzerten in ihrer alten Heimatstadt geben.
Bereits im Januar feiert die Lettische Nationaloper die Premiere der multimedialen Inszenierung von Richard Wagners Oper »Rienzi«. Mit deren Komposition hatte der Deutsche in seiner Zeit als Kapellmeister in Riga (1837-1839) begonnen. Außerdem kommen hier 2014 auch zwei ganz andere Opern auf die Bühne: Das dem großen, in Riga geborenen Schachspieler Mikhail Tal gewidmete Werk »Schach« von Kristaps Petersons und Arturs Maskats’ »Valentina«. Darin wird die Geschichte von Valentina Freimane erzählt, einer bemerkenswerten Figur aus der Kulturgeschichte Rigas.
Freimane ist eine der letzten Überlebenden des Holocausts in Lettland. Ihre Kindheit verbrachte sie in Paris, Berlin und Riga. Nach der deutschen Besetzung Lettlands im Juni 1941 wurden ihre Eltern und alle anderen Angehörigen ins Rigaer Ghetto verschleppt und später erschossen, aber sie selbst versteckte sich bei ihrem Mann. Während der Sowjetzeit machte sie in Lettland Karriere als Kunst-, Film- und Theaterwissenschaftlerin. Heute lebt die 91-Jährige in Berlin.
Baltischer Bernstein im Grab des Pharao
Insgesamt sind rund 200 Kulturprojekte und Veranstaltungen im Programm von »Riga 2014« geplant. Viele von ihnen beleuchten europäische wie lettische Geschichte, so auch das Projekt »Bernsteinweg«. Der baltische Bernstein wird als der weltweit reinste Bernstein angesehen. In den alten Zeiten galt er nicht nur bei den Balten geradezu als Währung - gewissermaßen ein Vorläufer des Euro. Die historischen Bernsteinstraßen verbanden die Ostsee mit dem Mittelmeer und dem Schwarzen Meer. Baltischer Bernstein wurde sogar im Grab des Pharao Tutanchamun gefunden. Für das ganze Jahr ist Gelegenheit, auf dem Bernsteinweg in Riga zu wandeln. Im Naturkundemuseum kann man in der Ausstellung »Vom Bernstein zum Bernsteinfaden« seit Jahresbeginn Textilarbeiten lettischer Künstler sowie ein mehrdimensionales Objekt aus Bernsteinmaterialien ansehen. Am Ende des Jahres werden die Ägyptologie und der baltische Bernstein im Mittelpunkt einer Ausstellung im historischen Gebäude der Rigaer Börse stehen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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