Schweigen ist Gold

Für Dierk Hirschel sind die wirtschaftspolitischen Bekenntnisse von Bundespräsident Joachim Gauck ein Tiefpunkt

  • Dierk Hirschel
  • Lesedauer: 3 Min.

Letzte Woche hatte auch der Bundespräsident sein coming out. Er informierte die interessierte Öffentlichkeit über seine wirtschaftspolitische Haltung. Wenn ein Pfarrer über Wirtschaft redet, dann ist manchmal das Schlimmste zu befürchten. Gaucks Bekenntnis zum Neoliberalismus war ein solcher Tiefpunkt. In einer Geburtstagsrede für das Walter-Eucken-Institut forderte der Präsident mehr intellektuelle Redlichkeit und mehr historisches Bewusstsein im Umgang mit wirtschaftsliberaler Theorie und Praxis. Schön wäre es gewesen, wenn er diese Maßstäbe auch an sich selbst angelegt hätte.

Stattdessen entwarf Gauck ein Zerrbild über die Rolle ordoliberaler Politik - der deutschen Variante des Neoliberalismus - in der Bonner Republik. Eucken, Müller-Armack, Ehrhard & Co wurden als Vorkämpfer für Freiheit, Marktwirtschaft und Sozialstaatlichkeit verklärt.

Diese eigenwillige Geschichtsinterpretation hat mit der Realität wenig zu tun. Der Ordoliberalismus war die Antwort des deutschen Mittelstandes auf seine Bedrohung durch Industrialisierung und wirtschaftliche Macht. In der Weimarer Republik sahen sich Handwerker, Bauern und Einzelhändler einer Zangenbewegung aus Konzernpolitik, sozialstaatlicher Gesetzgebung und gewerkschaftlicher Tarifpolitik ausgesetzt. Konzerne und Gewerkschaften sollten entmachtet werden, um wieder faire Wettbewerbsbedingungen herzustellen. Tarifparteien und Parlament sollten die Einkommen nicht mehr umverteilen. Die soziale Sicherung sollte sich auf Armutsfürsorge beschränken. Nach dem Zweiten Weltkrieg war das ordoliberale Konzept der »Sozialen Marktwirtschaft« die taktische Reaktion konservativ- und liberal-bürgerlicher Kreise auf die antikapitalistische Grundstimmung in der Bevölkerung. Wer nicht vom Kapitalismus reden wollte, sprach von der sozialen Marktwirtschaft. Diese »Soziale Marktwirtschaft« stand aus Sicht der ordoliberalen Freiburger Schule weder für ein umlagefinanziertes Rentensystem, noch für ein progressives Steuersystem, noch für die Mitbestimmung oder starke Gewerkschaften.

Ludwig Erhard wollte die Gewerkschaften unter das Kartellgesetz stellen, konnte dafür aber keine politische Mehrheit gewinnen. Die Mitbestimmung hielt er für unvereinbar mit dem freien Markt und kämpfte gegen das Montan-Mitbestimmungsgesetz von 1951, das aber nach gewerkschaftlichen Streikdrohungen durchgesetzt wurde. Auch sein Widerstand gegen die Einführung der dynamischen Rente war erfolglos. Aus Sicht Ludwig Erhards war die Rentenreform 1957 der Anfang vom Ende der sozialen Marktwirtschaft. Den Wohlfahrtsstaat verdanken wir folglich nicht den deutschen Ordoliberalen. Der deutsche Sozialstaat war vielmehr Ergebnis eines hart umkämpften politischen Kompromisses.

Zur intellektuellen Redlichkeit hätte es auch gehört, darauf hinzuweisen, dass der zeitgenössische Neoliberalismus inzwischen zu einer reinen Rechtfertigungsideologie der Superreichen, der Banken und Konzerne degeneriert ist. Das neoliberale Plädoyer für mehr Markt und Wettbewerb hat seit Jahrzehnten nichts mehr mit der unternehmerischen Praxis zu tun. Großunternehmen missbrauchen regelmäßig ihre Marktmacht und schalten den Wettbewerb aus. Banken schlachten unwissende Kunden mit ausbeuterischer Kreditvergabe und manipulierten Preisen aus. Regierungen verscherbeln Staatsvermögen und unterstützen dadurch den Raubzug privater Unternehmen. Die von neoliberalen think-tanks vehement vorangetriebene Politik der Entstaatlichung hat all dies erst möglich gemacht. Wer sich da noch wundert, warum der Begriff neoliberal so negativ besetzt ist, dem ist nicht mehr zu helfen.

Gauck hat mit seiner ersten wirtschaftspolitischen Grundsatzrede unter Beweis gestellt, dass er in Wirtschaftsfragen nicht auf der Höhe der Zeit ist. Der neoliberale Diskurs über mehr oder weniger Staat geht an den realen Problemen vorbei. Staat und Markt sind keine Gegensätze. Der moderne Kapitalismus ist eine Mischwirtschaft, die durch vielfältige Eigentumsformen und ein umfangreiches staatliches Regelwerk geprägt ist. In vielen Wirtschaftsbereichen gibt es sowohl Privateigentum, Markt und Wettbewerb, als auch staatliches Ordnen, Planen und Entwickeln. Privateigentum und Markt können schöpferisch wirken. Sie sind aber auch sozial blind. Dort, wo Märkte, Wettbewerb und Privateigentum ihren Zweck nicht oder nur mangelhaft erfüllen, braucht es andere Eigentumsformen und Verfahren. Dazu hat Gauck aber nichts zu sagen.

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