Die neuen Produktivkräfte sind grün
Wie ökologisch dachte Marx? Eine Antwort auf die Kritik von Kohei Saito
Kohei Saito hat in seinem Debattenbeitrag »Marx dachte viel grüner« den löblichen Versuch unternommen, die Entwicklung von Marx als Ökologen darzustellen. Ein Schlüsselsatz seiner Darlegungen lautet: »Wenn der berühmte Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen von der Produktionssphäre (als Ausbeutung der Arbeiterklasse) auf die Ökosphäre (als Ausbeutung von Naturressourcen) erweitert wird, dann ist meines Erachtens die Bedeutung der «Entwicklung der Produktivkräfte» auch ganz anders als im traditionellen Marxismus zu verstehen.« Dem kann man nur hinzufügen: Das hat nicht nur mit dem traditionellen Marxismus (was man auch immer darunter verstehen mag), sondern auch mit Marx nicht viel zu tun.
Für Marx war der Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen der Widerspruch in der Produktionssphäre zwischen der materiellen Entwicklung der Produktion und ihrer gesellschaftlichen Form. Der Produktionsprozess materieller Güter war, ist und bleibt immer ein Prozess zwischen Mensch und Natur, in dem der Mensch sich Naturgegenstände für seine Zwecke aneignet. Der Mensch tritt dazu nicht aus der Produktionssphäre heraus und in die Ökosphäre hinein, sondern produziert entweder ökologisch oder naturschädigend.
Die unscharfe Formulierung Saitos rührt möglicherweise daher, dass Marx sich im »Kapital« auf das Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital konzentrierte, ohne jedoch die Beziehung zur Natur außer Acht zu lassen. Davon zeugt beispielsweise seine prinzipielle Einschätzung, dass die kapitalistische Produktion die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses entwickelt, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.
Ziemlich ratlos liest man die Ausführungen Saitos zur Rolle der Produktivkräfte bei der Ablösung einer Gesellschaftsordnung durch die nächste. Saito zitiert die bekannte These von Marx aus der Zeit, als dieser begann, sich auf seine Kapitalstudien zu konzentrieren: »Auf einer gewissen Entwicklungsstufe geraten die materiellen Produktivkräfte in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen, die aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte zu deren Fesseln werden. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein.«
Saito zitiert diese These, um sie als notorischen »historischen Materialismus« und »Technikdeterminismus« abzutun. Ist sich Saito nicht bewusst, dass Marx am Ende seiner Arbeit am »Kapital«, als er sich, wie Saito betont, gründlicher mit Fragen der Ökologie beschäftigte, die zitierte These fast wörtlich wiederholte?
Das heißt: Marx hatte seine Auffassung von den Produktivkräften als materialistischem Kern seines Gesellschaftskonzepts durch seine intensive Arbeit am »Kapital« nicht korrigiert, sondern bestätigt. Im Einzelnen bedeutet dies: Für Marx waren, sind und bleiben die Produktivkräfte das revolutionäre Element der gesellschaftlichen Produktion und schaffen in der alten Gesellschaft die materiellen Voraussetzungen für die Produktionsverhältnisse der neuen Gesellschaft. Wie ich bereits in »Das Neue entsteht im Alten« ausgeführt habe, entwickeln sich gegenwärtig auf breiter Front solche Produktivkräfte. Ihr gemeinsames Kennzeichen ist ihr naturschonender, ökologischer Charakter oder, um im Bilde von Saito zu bleiben: die neuen Produktivkräfte sind grün.
Damit erhält eine Vision immer mehr Konturen, die Marx in seinen Frühschriften formulierte: »Also die (zukünftige) Gesellschaft ist die vollendete Wesenseinheit des Menschen mit der Natur, ... der durchgeführte Naturalismus des Menschen und der durchgeführte Humanismus der Natur.«
Dr. Hubert Fetzer, ehemals Gesellschaftswissenschaftler an der Akademie der Wissenschaften der DDR, beschäftigt sich mit der Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen. Er publizierte dazu in »Utopie kreativ« und »Sozialismus«.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.