Demonstranten fordern Revolution in Bosnien
Ruf nach Umkehr der »kriminellen Privatisierungen« und scharfe Kritik an Politikerkaste / Kommentator: »Das System zerfällt«
Sarajevo. Bei den immer stärker werdenden Protesten in Bosnien-Herzegowina haben die Demonstranten am Samstag eine »politische Revolution« gefordert. Zuvor waren bei Auseinandersetzungen mit der Polizei mehr als 200 Menschen verletzt worden. Zahlreiche Rathäuser und Parteizentralen gingen ebenso in Flammen auf wie Regierungsgebäude und Behördenfahrzeuge.
Demonstranten in der Stadt Tuzla im Nordosten des Landes fordern inzwischen, dass die Einkommen aller Politiker an den äußerst niedrigen Durchschnittslöhnen im Land ausgerichtet werden. Das berichteten die Medien am Samstag übereinstimmend. In Bosnien beträgt das Einkommen nach Berechnungen des staatlichen Statistikamtes im Schnitt umgerechnet 423 Euro. Doppelt so viel wäre für das Existenzminimum notwendig, sagt der Verband der Konsumentenschützer.
Ausdrücklich verlangen die Demonstranten, dass Politiker in Zukunft nicht mehrfach bezahlt werden. Der Hintergrund: Alle Politiker bessern ihr ohnehin doppelt und dreifach höheres Gehalt noch durch Posten in verschiedensten Ausschüssen und Gremien sowie in vielen Unternehmen auf, so dass sie oft Bezüge von mehreren Tausend Euro genießen können. Hinzu kommen Vergünstigungen wie freie Wohnungen und Dienstwagen. Zwei regionale Regierungschefs sind inzwischen zurückgetreten, ein dritter hat seinen Rücktritt angeboten.
Die »kriminellen Privatisierungen« der Staatsbetriebe müssen rückgängig gemacht und die »Wirtschaftskriminellen« vor Gericht gestellt werden, heißt es in dem Forderungskatalog weiter. Schließlich dürften die zurückgetretenen Politiker nur durch parteilose Experten ersetzt werden. In Bosnien-Herzegowina sind im Oktober turnusmäßig Parlamentswahlen auf allen Ebenen angesetzt.
»Der Staat steckt in vollständigem Chaos, das System zerfällt«, beschreibt der Kommentator Enver Kazaz in der größten Zeitung »Dnevni Avaz« am Samstag die Lage. Er schlug daher den Rücktritt aller regionalen elf Kantonsregierungen und vorgezogene Wahlen vor.
Durch den Brand im Gebäude des Staatspräsidiums in Sarajevo ist auch ein Teil des Staatsarchivs vernichtet worden, teilten die Behörden mit. Bestände aus dem 19. Jahrhundert, die drei Kriege überdauert hätten, seien zerstört. Im ganzen Land begannen Staatsanwälte, die Schäden aufzunehmen und eventuell Schuldige auszumachen. dpa/nd
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.