Immer diese Familienbande
Das BGH-Urteil zum Elternunterhalt festigt die Unkündbarkeit zwischen Eltern und Kindern
Der Sohn ist 18 Jahre alt, als sich die Eltern 1971 scheiden lassen. Nach einem Jahr lockeren Kontakts kappt der Vater alle Verbindungen. 1998 schreibt er sein Testament. Sein Sohn soll nur den »strengsten Pflichtteil« erhalten. Sie leben in der gleichen Stadt, bis zu seinem Tod in einem Pflegeheim 2012 verweigert der Vater jegliche Annäherungsversuche des Sohnes, er hat seine Pflicht getan.
Wäre der Vater nicht am Ende seines Lebens arm gewesen, wäre mit seinem Tod nur eine schwierige und traurige Vater-Sohn-Beziehung zu Ende gegangen. Doch der Vater konnte das Heim nicht zahlen und so landete der Fall vor dem BGH. Das oberste Gericht beschied dem Vater zwar, die im Gesetz festgelegte Pflicht auf »Beistand und Rücksicht« durch die »Aufkündigung des familiären Bandes« verletzt zu haben. Dies sei aber noch keine »schwere Verfehlung«, denn die Elternpflicht bis zur Volljährigkeit des Kindes habe er erfüllt. Jetzt fordert der Staat diese vom Sohn. Ganz nüchtern betrachtet: 9000 Euro durch 18 Jahre Erziehungszeit geteilt, sind 500 Euro pro Jahr. Nicht viel Geld, das geht als Pflichtanteil schon durch. Auf der Grundlage des Bürgerliches Gesetzbuches sicher eine einwandfreie Entscheidung.
Hinter der juristischen Entscheidung steht aber zugleich ein konservatives Familienbild, das der CDU-Gesundheitspolitiker Jens Spahn nach dem Urteil gegenüber der »Rheinischen Post« mit den Worten kommentiert: »Familie ist man halt ein Leben lang.«
Eine Erfahrung, die angesichts des noch vorherrschenden, aber sich wandelnden Familienbildes sicher viele Menschen teilen. Die Bundeszentrale für Politische Bildung schreibt dazu: »Die Familie ist nach wie vor für die meisten Menschen und für die Gesellschaft eine unverzichtbare Institution und damit höchst erstrebenswert.« Oder, wie Spahn: »Familie ist man halt ein Leben lang.« Das gilt nicht nur in Familien, deren Beziehungen von gegenseitigem Respekt geprägt sind, in denen es selbstverständlich ist, für die Kinder ein Leben lang und für die Eltern in deren Alter da zu sein. Auch wenn es nicht immer gut lief in der Familiengeschichte - die Zeit, die wir in Familienbanden miteinander verbracht haben, prägt uns ein Leben lang.
Gleichzeitig ist die Erfahrung vieler Menschen eine andere. Entfremdung, differierende Lebensentwürfe, Erfahrungen von Gewalt - es gibt viele Gründe, die Familie nicht zum Leitbild des Lebens zu erheben.
Die Alternativen sind heutzutage vielfältig: Einelternfamilien, Paare, die weder verheiratet noch verpartnert sein wollen, Patchwork-Familien, zusammenlebende Freunde oder Wahlverwandtschaften. Hier wird freiwillig Verantwortung auch für Kinder übernommen, hier entsteht ein solidarisches Miteinander jenseits der bürgerlichen Familie. Damit soll keinesfalls gesagt werden, das freiwillige Miteinander sei immer konfliktfrei. Das kann ebenso wenig gelten wie der Umkehrschluss: Wo Familie ist, da ist Stress.
Doch die Grundlage dieses Miteinanders steht auf freiwilligen Füßen, jenseits der Pflicht des Gesetzes. Deshalb bleibt die Frage: Warum können wir Familienbande nicht aufkündigen? In diesem Fall hat der Vater sich das Recht genommen, das ist verletzend, aber legitim. Der Vater selbst - außer er hegte Hass gegen seinen Sohn - wäre sicher nicht auf die Idee gekommen, seinen Sohn zahlen zu lassen.
In einem Gespräch mit der »Neuen Osnabrücker Zeitung« sagte der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach: »Ich persönlich halte dieses Urteil für menschlich nicht nachvollziehbar.« Es sei kaum akzeptabel, dass »ein Sohn unter derartigen Umständen mit der Übernahme der Kosten belastet« werde, fügt Lauterbach hinzu.
Der Interessenverband Unterhalt und Familienrecht (ISUV) kritisiert denn auch: »Die vertrackte Dialektik der Argumentation des BGH ist schwer vermittelbar: Der Vater enterbt den Sohn, und der Sohn ›erbt‹ die Unterhaltsschulden. Dies ist nach Auffassung des BGH keine ›schwere Verfehlung‹ des Vaters«, so ISUV Vorsitzende Josef Linsler. »Nach gängigem Rechtsverständnis fragt man sich: Ist es nicht grob unsolidarisch, gleichsam eine Bestrafung des Kindes, wenn ihm der Vater nur die Schulden hinterlässt?« Seiner Meinung nach ist die Wirkung des Urteils »fatal«, denn der BGH habe eine Chance verpasst, ein gesellschaftlich wichtiges Signal zu setzen: »Unterhaltszahler und Unterhaltsempfänger stehen in einem gegenseitigen Treue- und Respektverhältnis.«
Im Gegensatz zum Urteil heißt das: nur solange sich beide Seiten respektieren und sich in einer Beziehung zueinander sehen, besteht die Verpflichtung zum Unterhalt. Dagegen gibt es keine Verpflichtung, sich sein Leben lang aneinander zu binden, auch nicht für Eltern und Kinder. Familie ist man halt doch nicht sein Leben lang.
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