Die neuen Mauerschützen

Elias Bierdel über Schießbefehle bei der Abwehr von Flüchtlingen an den EU-Außengrenzen

  • Elias Bierdel
  • Lesedauer: 3 Min.

Flüchtlinge versuchen, schwimmend die Grenzanlagen zu überwinden, vom Ufer her werden sie von staatlichen »Sicherheitskräften« unter Feuer genommen. 15 Leichen werden in den Tagen danach am Strand aus dem Wasser gezogen. Zunächst leugnen die Beamten den Schusswaffeneinsatz, dann aber rechtfertigt der zuständige Minister ihn auch noch: die Flüchtlinge hätten sich »aggressiv« verhalten, die Grenzer deshalb versucht, durch Schüsse ins Wasser eine »Linie der Abschreckung« zu markieren. Überlebende berichteten dagegen, sie seien »wie Hühner« gezielt beschossen worden.

Ein solcher Vorfall am »Eisernen Vorhang« hätte vor einigen Jahren (und völlig zu Recht!) zu einem Aufschrei der Empörung in der westlichen Welt geführt. Kommentatoren der wichtigsten Medien wären sich einig gewesen, dass nur ein - moralisch und politisch - bankrottes Unrechtsregime in der Lage sei, Menschen auf der Flucht im staatlichen Auftrag ermorden zu lassen.

Tempi passati. Denn die Ereignisse, von denen hier die Rede ist, haben sich nicht etwa in fernen Zeiten des »Kalten Krieges« zugetragen, sondern es sind alltägliche Szenen von den heutigen EU-Außengrenzen. Zum Beispiel aus der Küstenstadt Ceuta, europäische Enklave auf afrikanischem Territorium. Ein Stück Spanien in Marokko, seit der Zeit der Kreuzzüge. Noch Anfang der 1990er Jahre stand hier ein einsames Zäunchen, kaum 150 Zentimeter hoch. Eine rein symbolische Grenze. Dann begann der Mauerbau: erst drei, dann sechs Meter hoch wuchsen die Zäune. NATO-Stacheldraht, Kameras und automatische Tränengas-Sprühanlagen kamen dazu. Als das nicht reichte, rückten Militär und Spezialtruppen des spanischen Innenministeriums ein. Seitdem herrscht Krieg. Allein in zwei Nächten im Oktober 2005 sind mindestens 16 Menschen an den Zäunen gestorben. Mehrere der Toten wiesen Schussverletzungen auf. Opfer einer Abschreckungs- und Abschottungspolitik, die buchstäblich - und keineswegs nur im übertragenen Sinne - über Leichen geht.

Die Schüsse von Ceuta sind kein Einzelfall. Auch an der griechisch-türkischen Grenze wird seit Jahren scharf geschossen. Auf dem Meer vor den Urlaubsinseln der Ägäis überfallen schwarz vermummte Sondereinheiten der Küstenwache Flüchtlinge, die die wacklige Überfahrt in der Nacht versuchen. Da werden Menschen ins Wasser geworfen, ihre Schlauchboote mit Messerstichen zum Sinken gebracht. Viele der Opfer, die an den Küsten angespült werden, sind Afghanen. Keine Chance gegen die Menschenjäger: Sie konnten nicht einmal schwimmen.

Als am 3. Oktober des vergangenen Jahres beim Untergang eines Flüchtlingsbootes unmittelbar vor der italienischen Insel Lampedusa über 350 Menschen starben, war die Betroffenheit groß. Von EU-Kommissionspräsident Barroso bis hin zum Papst war angesichts hunderter Särge von »Schande« die Rede. Italien verhängte Staatstrauer. Aber es änderte sich nichts. Nicht zum Besseren jedenfalls. Nur eine Woche nach dem Massensterben in Strandnähe kenterte, wenige Kilometer entfernt, ein weiteres Flüchtlingsboot. Über 200 Menschen - ausnahmslos syrische Bürgerkriegsflüchtlinge - fanden den Tod.

Die Berichte der Überlebenden hätten erneut zu einem weltweiten Aufschrei des Entsetzens führen müssen: wie das Boot von der libyschen Küstenwache (aufgerüstet im Rahmen eines Geheimabkommens zwischen Rom und Tripolis) beschossen wurde. Wie das durch den Beschuss beschädigte Boot zu sinken begann. Wie die italienischen Behörden den per Satellitentelefon abgesetzten Notruf zwar entgegen nahmen, aber nichts zur Rettung der Schiffbrüchigen unternahmen. Wie man das sinkende Schiff und seine Besatzung über Stunden ihrem Schicksal überließ. Wie andere Schiffe (darunter der deutsche Frachter »MS Bremerhaven«) vorbeifuhren, ohne Hilfe zu leisten ...

Europäische Beamte, die sehenden Auges Menschen ertrinken lassen! Und die Regierungen der mächtigsten EU-Mitgliedsstaaten tun so, als gehe sie das alles nichts an. Sie bauen weiter auf eine verstärkte Flüchtlingsabwehr, während sich in unmittelbarer Nachbarschaft, in Syrien, die größte humanitäre Katastrophe unserer Zeit vollzieht.

Eine besondere Verantwortung trifft hier ausgerechnet jene Regierung, die ihren Sitz im einst geteilten Berlin hat. Ohne ihre Zustimmung gäbe es keine Schießbefehle an der EU-Schandmauer.

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