Es begann mit fünf Paukenschlägen
Terra incognita DDR: Das kurze Leben des Deutschen Soldatensenders »935«
Am 1. Oktober 1960 meldete sich ein neuer Sender auf der Mittelwelle 935 im Äther. Mit fünf Paukenschlägen und dem Satz »Hier ist der Deutsche Soldatensender« stellte er sich vor. Stumm blieb an diesem Abend der bereits ein Jahr zuvor auf Weisung des Verteidigungsministers Franz-Joseph Strauß aufgestellte Bundeswehrsender. Drei Monate zuvor, am 15. Juni, hatte der Nationale Verteidigungsrat der DDR beschlossen, einen Soldatensender zu gründen; bis zum 30. September sei die personelle, technische und organisatorische Sendebereitschaft herzustellen. Damit sollte der psychologischen Kampfführung der Bundeswehr entgegengewirkt werden. Deren Sender sollte seine volle Stärke am 1. Oktober 1960 (sic) erreichen, also an dem Tag, als das östliche Pendent sich erstmals meldete.
Im Rundfunkbataillon der Bundeswehr arbeiteten etwa 400 Militärs aller drei Waffengattungen sowie eine Schar von Ingenieuren und Tontechnikern. Etwa die Hälfte der Redakteure waren berufserfahrene Rundfunkleute, weitere 30 Prozent kamen aus dem Zeitungsgewerbe. Bescheiden nahmen sich dagegen die Bedingungen des Senders »935« aus. Im Laufe der zwölf Jahre seiner Existenz gehörten ihm 74 Militärs und Zivilangestellte mit antifaschistischem Hintergrund an. Wie beim westdeutschen Gegenstück nutzten auch Redakteure und Sprecher von »935« Pseudonyme.
In der Hochzeit des Kalten Krieges ging der Nationale Verteidigungsrat der DDR davon aus, dass die militärpolitische Situation in Deutschland »große Gefahren für den Weltfrieden« in sich berge. Aus nationaler Verantwortung für die Zukunft des deutschen Volkes und den Frieden in Europa sei es notwendig, die Einwirkung auf die Bundeswehr »durch die Errichtung eines Soldatensenders entschieden zu verstärken«. Der Sender habe ein »ansprechendes, vielseitiges und populäres« Programm mit Nachrichten aus Politik, Gesellschaft und Sport, Informationen aus dem Armeealltag sowie kulturellen Angeboten, Unterhaltung und reichlich Musik zu gestalten. Explizit erwartet wurde ein hohes Maß an schöpferischer Eigenständigkeit. Unüblich in jeder Armee war hier »Narrenfreiheit« sanktioniert.
Als Standort für den Deutschen Soldatensender wurde das Gelände des Armeesportklubs (ASK) in Berlin-Grünau, in der Regattastraße 267, ausgewählt. Den Ausschlag dürfte weniger die idyllische Lage an der Olympia-Regattastrecke von Dahme und Langem See gegeben haben, als vielmehr die dort vorhandenen technischen Voraussetzungen.
Erster Kommandeur war Erhard Reichardt, ein Mann des antifaschistischen Widerstandes, der in der NS-Zeit im Zuchthaus Zwickau und Waldheim saß, bevor er 1943 in eine Wehrmachtstrafeinheit der »999er« gepresst wurde. Gegen Ende des Krieges in jugoslawische Kriegsgefangenschaft geraten, kämpfte er in einer Partisaneneinheit gegen Wlassow-Truppen. Nach dem Krieg arbeitete er an Zeitungen für Kriegsgefangene mit und war Intendant des Landessenders Dresden, wurde jedoch bereits 1950 abberufen und wegen seiner »jugoslawischen Episode« politisch gemaßregelt. Ab Mitte der 1950er Jahre stellvertretender Chefredakteur der Satirezeitschrift »Eulenspiegel«, kehrte er 1958 zum Rundfunk zurück.
Auf antifaschistischen Hintergrund und Rundfunkerfahrungen - als Mitarbeiterin am Sender des »Nationalkomitees Freies Deutschland« in Moskau und nach dem Krieg beim MDR in ihrer sächsischen Heimat - konnte auch die erste Chefredakteurin des Deutschen Soldatensenders Lea Große verweisen. Sie stammte aus einer jüdischen Familie, wurde 1936 vom »Volksgerichtshof« zu Zuchthaus verurteilt und 1938 nach Polen abgeschoben. Nach dem deutschen Überfall am 1. September 1939 floh sie in die Sowjetunion; nach dem Krieg heiratete sie ihren langjährigen Lebensgefährten, den KPD-Reichstagsabgeordneten Fritz Große.
Zu den führenden Köpfen des deutschen Soldatensenders gehörten des Weiteren Richard Fischer sowie - etwas später - Hans Goßen, deren Lebensgeschichten unterschiedlicher nicht sein konnten. Letzterer war Mitglied der SA und der NSDAP, trat jedoch politisch nicht hervor - erst 1943, als er sich als Wehrmachtsgefreiter in russischer Kriegsgefangenschaft dem »Nationalkomitee Freies Deutschland« anschloss. Fischer wiederum hatte als Kind seinen Vater im Ersten Weltkrieg verloren, ein prägendes Erlebnis. Anfang März 1934 wurde der Kommunist und Antifaschist erstmals von der Gestapo verhaftet, tagelang schwer misshandelt und schließlich in einem Prozess gegen 60 Berliner Kommunisten, Sozialdemokraten und Gewerkschafter zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Nach der Entlassung wieder im Widerstand, folgte die erneute Inhaftierung 1937. Aus dem KZ Sachsenhausen wurde auch er zu Kriegsende in eine Strafkompanie zwangsrekrutiert. Als Vizechef der Politischen Hauptverwaltung der NVA nahm er an der Abnahme der Sendebereitschaft des Deutschen Soldatensenders am 29. September 1960 teil. Ihm vor allem war es zu danken, dass »935« von Soldaten der NVA wie auch der Bundeswehr angenommen wurde; die Zahl der Hörerbriefe überschritt die Hunderttausend.
Weitere prominente Mitarbeiter waren Oberst Job von Witzleben, ein Neffe des Generalfeldmarschalls Erwin von Witzleben, einem der Männer des 20. Juli 1944, sowie Oberst a. D. Wilhelm Adam, ein ehemaliger »Stalingrader«, der seine Texte auch selbst in das Mikrofon sprach. Der erste Hausmeister und Heizer beim Sender war Erich Dürr, der zur weit verzweigten Widerstandsgruppe »Rote Kapelle« gehört hatte. Seine Frau Elfriede bekochte die ersten Redakteure und Mitarbeiter. Aus der anfänglichen Redaktionsanschrift »Postfach 116, Französische Straße, Berlin« wurde alsbald die deutschlandweit populäre Adresse »W. Schütze Berlin W 8« - benannt nach dem umtriebigen Funktechniker Wilfried Schütze, der von Anfang an dabei war und nicht nur fachliche Kompetenz, sondern auch Witz einbrachte. Versuche aus dem Verteidigungsministerium, der postalischen Adresse das Kürzel DDR anzufügen, wurden von der Redaktion mit überzeugenden Argumenten abgewiegelt.
Ein Beispiel aus der Sendetätigkeit: Am 15. Januar 1962 befasste sich »935« mit der Weisung des Bundesverteidigungsministers Strauß, wonach Sportlern in der Bundeswehr eine Wettkampfbeteiligung in der DDR und anderen Ländern des Ostblocks untersagt wurde; aktueller Anlass für das ministerielle Verbot war der Bundeswehrgefreite Wolfgang Happle aus dem Gebirgsjäger-Bataillon 221, der bei der Weltmeisterschaft in der polnischen Skihochburg Zakopane antreten wollte. Der ostdeutsche Sender verwies auf die Unfairness, einem Sportler die Teilnahme an einem Ereignis zu verweigern, für das er jahrelang hart trainiert hatte.
Zitiert oder per Interview im O-Ton ausgestrahlt wurden Äußerungen von Militärs beider Seiten. Der Deutsche Soldatensender machte u. a. auf antisemitische Äußerungen des zum »Staatsbürger in Uniform« mutierten Adolf Graf von Kielmansegg aufmerksam, der Spitzenpositionen in der Bundeswehr und der NATO einnahm. Man stützte sich dabei auf dessen eigene Publikationen, z. B. »Panzer zwischen Warschau und Atlantik«. In diesem Buch brüstete sich Kielmansegg, dazu beigetragen zu haben, dass Polen »nicht nur besiegt«, sondern »durch unseren Sieg ausgelöscht war aus der Geschichte«.
Der Sender war vor allem an Meinungen von einfachen Soldaten der Bundeswehr interessiert. Im Gegensatz zu dessen Rundfunkbataillon »990«, das Angehörige der NVA und der DDR-Grenztruppen ausfragte, zahlte »935« nicht für Befragungen und Auskünfte. »990« gelang es u. a., den Kraftfahrer von »935« zu interviewen, den ersten und letzten Deserteur der Rundfunkmannschaft in der Regattastraße. Die Behauptung von Jürgen Wilke (»Radio im Geheimauftrag«), man sei beim Deutschen Soldatensender »enttäuscht« gewesen, »dass sich keine Wehrdienstverweigerer und Kriegsgegner aus der Bundesrepublik meldeten«, ist unzutreffend. »Enttäuscht« konnte man schon deshalb nicht sein, weil »935« nicht den Auftrag hatte, zur Desertion zu animieren.
Zum fünfjährigen Bestehen des Deutschen Soldatensenders würdigte DDR-Verteidigungsminister Heinz Hoffmann am 2. Oktober 1965 dessen erfolgreiche Arbeit mit der Verdienstmedaille der NVA in Gold. Dass »935« ein unverwechselbares Profil hatte und von den Angehörigen beider deutscher Armeen gern gehört wurde, gestand selbst der Generalinspekteur der Bundeswehr Ulrich de Maiziere ein; in den »Informationen für den Kommandeur« warnte er, die Sendungen des Deutschen Soldatensenders »nicht zu unterschätzen«. Auch die »Informationen für die Truppe« behandelten in einer Folge von Beiträgen die Wirkungen von »935« ausführlich und gaben Hinweise, wie ihnen zu begegnen sei.
In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre mussten sowohl die Chefredakteurin Lea Grosse wie auch Reichardt den Dienst quittieren. Ihnen und der Mannschaft wurde angeblich fehlende bzw. unzulängliche »militärische Ordnung und Disziplin« vorgeworfen. In Wirklichkeit störte die unorthodoxe Kreativität der Redaktion. Unter der neuen Führung wurde das Programm schmalspurig und engstirnig. Der Sender wurde durch die neue Situation in den deutsch-deutschen Beziehungen (Grundlagenvertrag) obsolet. Die Auflösung von »935« bestätigte Erich Honecker als nunmehriger Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates am 17. Juli 1972. In der »Geheimen Kommandosache 62/72« heißt es lakonisch: »Der Deutsche Soldatensender stellt nach mehr als zehnjähriger Tätigkeit mit Wirkung vom 01. 07. 1972 seine Tätigkeit ein.«
Von Dr. Kaiser, Mitglied der ersten Redaktion von »935«, erscheint am Dienstag bei Edition Bodoni »Hier ist der Deutsche Soldatensender 935 - Eine Stimme im Kalten Krieg« (188 S., 14 €).
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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